Kolumne Blagen: Süßes für den parasitären Kapitalismus

Erst wollte die Einssechzigblondine nicht mit in den Urlaub. Und dann referiert sie über Haushaltsdefizit, 9/11, Immobilienblase, verfehlte Steuerpolitik und Überschuldung.

Es sind Ferien, Qualitätszeit. Die Einssechzigblondine kriegt sich fast nicht mehr ein, als der Vater und ich sie in einen gemeinsamen Urlaub verschleppen. Was soll das werden, fragt sie, seit wann müssen junge Menschen zwangsweise ihre Ferien mit den Eltern verbringen?

Wir verstehen sie – denn seit wann müssen wiederum Eltern ihren gewerkschaftlichen Urlaub mit Postpubertierenden verbringen? Sagen wir mal so: Seit klar ist, dass dies für lange, lange Zeit die letzte Gelegenheit sein würde, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Und so sitzen wir mit der Einssechzigblondine im Flieger, steuern ein transatlantisches Ziel an, wo mit Dollars bezahlt wird und der Zeitzonenunterschied neun Stunden beträgt, so dass nicht einmal Facebook-Chats machbar sind. Also alles in allem eine Art Vier-Sterne-Synanon. Das späte Kind dankt es auf seine Weise: Es muffelt. Eine Woche lang zieht sie das durch, dann ist ihr Widerstand gebrochen, und wir sind tatsächlich noch mal so etwas wie eine richtige Familie mit gemeinsamen Erlebnissen und Gesprächen.

Eines dieser Gespräche dreht sich – wie sollte es anders sein – um die Schuldenkrise unseres Reiselands. Die Einssechzigblondine verfügt dank Kellnerjob und spendabler Großeltern über reichlich grüne Scheinchen, die in ihrer Shortstasche knistern. Sie gibt ihre Dollars für das dreiundfünfzigste T-Shirt aus, für unkleidsamen grauen Nagellack und für eine Erdnussbutter-Karamell-Süßigkeit, wie sie so nur der "parasitäre und faulende Kapitalismus" (Lenin) hervorzubringen in der Lage ist. Es ist ihr scheinbar reine Freude, ihr Geld ins wankende Finanzsystem zu pumpen.

Und doch. Als wir abends in die Ortsmitte latschen, um in der verblassenden Hitze New Mexicos eine letzte Limonade zu trinken, sieht selbst eine unbeschwerte Konsumentin wie die Einssechzigblondine sie: die Armen. Das sind nicht ausschließlich die Hundestruppis, wie sie sie von deutschen Bahnhöfen und Parks kennt. Es sind auch die neuen Armen, die aus ihren zu Wohnungen umfunktionierten Kombis geklettert sind, sich ein sauberes Shirt angezogen haben und nun im lauen Abendwind auf den Bänken der Plaza sitzen und warten.

Worauf? Auf ein Stück soziales Leben, ein bisschen Livemusik, vielleicht ein Gespräch mit Fremden. Und wohl auch auf die verdammten Politiker dieses Landes. Auf dass sie diese monströse, kaum verständliche Schuldenkrise gerade noch in den Griff kriegen. Und sie wieder ihr Leben.

Die Einssechzigblondine gibt uns eine Kostprobe ihres Schulwissens. Sie referiert ein bisschen über Haushaltsdefizit, 9/11, Immobilienblase, verfehlte Steuerpolitik und Überschuldung. Sie bezichtigt die Republikaner der politisch kalkulierten Fahrlässigkeit und nimmt noch einen kräftigen Schluck von der leckeren Limonade. Wir sind beeindruckt. Tatsächlich scheint das deutsche Schulwesen unserem Kind die Grundbegriffe der politischen Ökonomie vermittelt zu haben.

Und, fragen wir, wie sieht die Lösung aus? Es gibt wohl keine. Politiklehrer, die unseren Kindern umstürzlerische Theorien vermitteln, werden scheinbar vom Schulamt verfolgt. Die Einssechzigblondine versucht uns mit der Aussicht auf den weiter fallenden Dollar und den damit verbundenen knallbilligen Urlaub zu trösten. Aber freuen können wir uns nicht. Gerade rollen drei Obdachlose ihre Schlafsäcke unter einem Trompetenbaum aus. Und wir? Wir sind in den Ferien. Haben Qualitätszeit. Zeit zum Reden.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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