Debatte Neoliberalismus: Abschied vom Fortschritt

Der Neoliberalismus ist die letzte große Erzählung, die gescheitert ist. Nun muss es darum gehen, das verlorene Gemeingut zurückzugewinnen.

Der französische Philosoph Jean-François Lyotard machte aus der "Erzählung" einen philosophischen Begriff. In seinem Buch "Das postmoderne Wissen" (1979) verkündete er das Ende der großen metaphysischen Erzählungen, die bis dahin den Westen geprägt hatten: Aufklärung, Idealismus, Marxismus - angesichts der Individualisierungs- und Atomisierungsprozesse der Gesellschaft schienen diese alles vereinnahmenden Interpretationen der Welt erledigt.

Ich glaube, dass das, was Lyotard postmodern nannte, einfach die vollständige Entfaltung der Moderne darstellt, wie es schon Marx, Weber und Nietzsche vorhergesehen haben. Die Menschen müssen nun ohne jede Illusion auf ihr Leben blicken: Gott ist tot, die Welt ist entzaubert.

Am schlimmsten beschädigt von allen großen Erzählungen ist die vom Fortschritt - und dabei war sie die wohl ausdauerndste. Wie stark war dieser Glaube an eine Menschheit auf dem Weg zu den Gefilden der allumfassenden Befreiung von den Zwängen der Natur! Doch nach den Schlachthäusern des Ersten und Zweiten Weltkriegs, nach dem Holocaust schien dieser Mythos erledigt. Doch es kam anders.

PIERO BEVILACQUA, 67, ist italienischer Historiker und Publizist, er lehrt an der Universität La Sapienza in Rom. Auf Englisch erschien von ihm zuletzt "Venice and the Water. A Model for Our Planet" (Polar Bear & Company, 2010).

Was ist der Sinn der Geschichte?

In der Nachkriegszeit kam eine neue Erzählung auf, die von der Entwicklung. Die Wirtschaft wuchs noch, die Verbesserung des Lebensstandard einer wachsenden Zahl von Bürgern hielt die Fortschrittserzählung aus dem 19. Jahrhundert in neuem Gewand am Leben. Die Arbeiterbewegung und die Parteien der Linken verinnerlichten sie völlig.

Der italienische KP-Führer Palmiro Togliatti brachte dieses Credo auf die Formel: "Wir kommen von weither, und weit werden wir gehen." Vielleicht ist diese Projektion der Hoffnung auf die Zukunft, dieser Glaube an ein besseres Leben auch eine anthropologische Konstante: Die Geschichte soll einen Sinn ergeben. Auf dieser Grundlage hat die moderne Politik ihre Karten ausgespielt, ob von konservativer oder linker Seite.

Seit etwa 30 Jahren jedoch haben die bürgerlichen Eliten eine breit gefächerte kapitalistische Gegenoffensive eingeleitet - die neoliberale Erzählung. Im Mittelpunkt dieses Romans einer Wiedergeburt des Fortschritts steht die Freiheit der Individuen, die Ausschaltung der Bürokratie, der freie Markt als einzige Regelungsinstanz der zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Diese neue Heiligenlegende hat eine unglaubliche Faszination ausgeübt. Auch die traditionellen Parteien der Linken konnten sich ihr nicht entziehen. Liberalisierung, Privatisierung, Wettbewerb, Flexibilität befielen die gute, alte Sozialdemokratie wie Parasiten und saugten sie aus.

Verarmung statt Fortschritt

Aber auch das ist vorbei. Denn was haben uns die Apologeten dieser jüngsten kapitalistischen Erzählung noch zu bieten? Weitere Privatisierungen, totale Steuerentlastung? Was hat das wirklich mit unserer Sehnsucht nach einem Leben in Würde zu tun? Nach drei Jahrzehnten neoliberaler Propaganda ist das fantastische Resultat, dass die nachfolgenden Generationen schlechter leben werden als wir und unsere Vorfahren. Zum ersten Mal muss im Westen eine politische Erzählung ohne Happy End auskommen. Wie in der Wegwerfgesellschaft die Produkte sind auch die Worte zu Abfall geworden.

Klar ist: Die Gemeingüter besitzen eine außerordentliche Entfaltungskraft der Erzählung. Sie tragen eine jahrhundertealte menschliche Erfahrung in sich, die der privaten Aneignung von Land, Wald und Wasser, Güter, die einst öffentlich waren. Unsere Gegenwart ist die Epoche, in der dieser Raub eine enorme Beschleunigung erfahren hat.

Die Erzählung von der Wiederaneignung des Verlorenen besitzt ein enormes Potenzial. Dazu gehören auch zentrale Errungenschaften des alten Wohlfahrtsstaates, die der aggressive Neoliberalismus in Zweifel gezogen hat. Dazu gehört etwa das alte britische Gesundheitssystem, das mehr oder weniger umfassend in den anderen europäischen Ländern übernommen wurde und welches das unbeschränkte Recht auf das Gemeingut Gesundheit gewährleistete. Ein Gut, das sich nicht auf die Medizin im engeren Sinne beschränken lässt, sondern weite Bereiche des sozialen Lebens einschließt, von der Debatte über die Atomenergie bis zur Luftverschmutzung. Gleiches gilt für die Wiederaneignung der Gemeingüter Wissen und Bildung für alle.

Aber jenseits von Auflistungen und ohne die Implikationen der Theorie zu verfolgen: Wichtig scheint mir, ihre Anwendbarkeit auf alle Lebensbereiche zu betonen, die das Konzept Gemeineigentum in sich einschließt. Man muss nur ein bisschen nachdenken, schon kommt man auf den Himmel, die Luft, die Städte, Straßen und öffentlichen Plätze, die Schönheit der Landschaft, die Lebenszeit.

Sehnsucht nach Zusammenhalt

Im Grunde ist die Wiederaneignung der Gemeingüter einfach Ausdruck der Sehnsucht der Individuen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederzufinden, der sie aus ihrer Isolation erlöst - ohne ihnen dabei ihre Freiheit zu nehmen. Es ist die politische Erzählung, die den Menschen vor der Angst der Moderne beschützen und ihnen eine Geschichte aufzeigen kann, die Sinn hat und die das Unbehagen an der Gegenwart kritisch beleuchtet. Sie bringt unterschiedliche Interessen zusammen und ermöglicht die Partizipation aller sozialer Schichten - eine Perspektive, die in den letzten Jahren bei allen völlig aus dem Blickfeld geraten ist.

Zuletzt: Diese neue Erzählung stellt sich in offenen Gegensatz zum Grundwiderspruch des Kapitalismus. Der gemeinschaftlich produzierte Reichtum fließt immer in die engen Bahnen der privaten Aneignung. Heute geht es dabei aber nicht mehr nur mehr um die Anhäufung bestimmter Güter; heute geht es um die ganze Erde, das gemeinsame Haus der Menschen, das von der Zerstörung durch den Plünderungszug der Privatinteressen bedroht ist. Und deswegen müssten potenziell alle die Erzählung von den Gemeingütern als die ihre verstehen und annehmen können, jenseits politischer, sozialer, kultureller und religiöser Grenzen.

Aus dem Italienischen von Ambros Waibel und Riccardo Valsecchi

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.