ESC-Berichterstattung: Zwischen Heuchelei und Anteilnahme
Laufen deutsche Journalisten Gefahr zu heucheln, wenn sie über Menschenrechtsverletzungen vor dem ESC in Aserbaidschan schreiben? Pro & Contra.
Vor dem Finale des Eurovision Song Contest in Baku ist unter Beobachtern des Wettbewerbs ein Streit entbrannt, wie man angemessen über die Veranstaltung berichtet.
Kern der Diskussion ist die Frage, wie journalistisch mit den demokratischen Defiziten des Gastgeberlandes umzugehen ist; mit Zwangsräumungen, fehlender Meinungs- und Versammlungsfreiheit, mit Schikanen durch die Polizei und unrechtmäßigen Verhaftungen. Auch in der Redaktion der taz wird diese Frage intensiv diskutiert.
Für die taz berichtet aus Baku Redakteur Jan Feddersen, der den Eurovision Song Contest seit vielen Jahren beobachtet – schon vor seiner Abreise hatte er über Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan berichtet. Er bloggt zudem für den NDR aus Baku. In einer Kolumne auf taz.de hatte sich Feddersen zum Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, geäußert. Menschenrechtsskandale, wie sie Löning öffentlich angeprangert hatte, gebe es durchaus in Aserbaidschan, schrieb Feddersen. „Viele hier werden den Verdacht nicht los, dass es einerseits stimmt, was er mitteilte. Und andererseits auch eine Spaßbremse sondergleichen ist.“
Daraufhin kritisierte der Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, Wolfgang Grenz, Feddersens Aussagen als „weltfremd“. Auch der Medienjournalist Stefan Niggemeier, der für Spiegel Online aus Baku berichtet, hatte sich in seinem Blog kritisch zur Berichterstattung Feddersens geäußert. Journalisten, Fans und Kritiker hätten sich zuvor darauf geeinigt, dass es gut sei, wenn möglichst viele nach Baku fahren würden, um sich ein eigenes Bild zu machen. „Aber die Leute, die jetzt in Baku sind, sehen natürlich vor allem: die Fassaden.“ Felix Dachsel
PRO
Zunächst zu den Fakten: Dieses Land Aserbaidschan am Kaspischen Meer ist im Vergleich zu seinen Nachbarn nicht nur auf den ersten Blick eine westlich anmutende Oase.
Über die Demokratiedefizite Russlands, über die theokratischen Despoten in Iran oder über das auch nicht gerade plurale Georgien muss man kein Wort verlieren. Eher noch über die Türkei – im Gegensatz zu dieser wird in Aserbaidschan eine strikte Trennung von Staat und Religion geachtet.
Baku sieht westlich aus, Kopftücher bei Frauen sind rar, Schwule und Lesben werden durch kein Gesetz verfolgt. Dass Queerness in Aserbaidschan nicht so populär ist, liegt mehr an bislang fehlenden Einflüssen aus dem zentralen Europa. Was den Gehalt des Demokratischen anbetrifft, kommt dieses Land eher dem Niveau Rumäniens oder Bulgariens vor den Beitritten zur EU nahe.
Baku verströmt überall den Charakter von Moderne und einen fast wahnsinnigen Willen zum Aufbruch. Organisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International machen seit dem Sieg von Ell/Nikki in Düsseldorf im Mai 2011 einen glänzenden Job, auch ich habe damals auf die Probleme hingewiesen, die es in Baku geben würde. Die Organisationen machen das, wofür sie da sind: auf Missstände hinzuweisen. Und sie tun das in Form von Kampagnen. Ihre Hinweise in Sachen ESC und Aserbaidschan waren nötig – und gut. Tatsächlich sitzen etwas mehr als ein Dutzend Menschen im Gefängnis, weil sie gegen das Regime in Baku auch durch (nicht genehmigte) Proteste aufstanden. Die europäische Welt erfährt nun, dass in Aserbaidschan noch manches im Argen liegt.
Aber es ist kein Land wie Kambodscha unter den Roten Khmer, es ist kein Nordkorea, es ist kein Myanmar von vor einem Jahr: Vor allem ist es die freundlichste ESC-Gastgeberstadt, die sich denken lässt. Offenbar ist die immer breiter werdende Mittelschicht des Landes stolz, den arrivierten Europäern zu zeigen, dass sie so ein buntes Event veranstalten können. Anders beim ESC in Moskau 2009 oder in Belgrad im Jahre 2008. Dort wurden ESC-Besucher mehr geduldet und ertragen. Moskaus Bürgermeister Luschkow sagte damals, er werde nicht die Eröffnungsparty beehren – weil er einem Schwulen nicht die Hand schütteln wolle.
Zur Medialisierung gehört auch, Missstände zu benennen – aber mir als Journalist war und ist wichtig, alle Perspektiven gründlich in den Blick zu nehmen. Aserbaidschan braucht gewiss mehr Akkuratesse in puncto Menschenrechte. Was wir nicht brauchen, ist eine Medialisierung, die einseitige und verzerrende Schwerpunkte formuliert. Wer momentan in Baku übersieht, dass auch durch den ESC die Stadt quasi europäisch „infiziert“, ja „gequeert“ wird, verkennt das Politische am ESC. Jan Feddersen
Contra
Die Aufgabe von Journalisten lässt sich nüchtern auf die Formel bringen: hinter die Fassaden blicken. Das in Aserbaidschan und beim ESC nicht anders als anderswo, nur dass die Fassaden hier ganz außerordentlich prachtvoll sind.
Der Grand Prix ist für das autoritär herrschende Regime eine Fassade, um sich der Öffentlichkeit als europäisch, modern und weltoffen zu präsentieren. Einiges in Baku ist verblüffend europäisch.
Doch viele europäische Werte und Ideale zählen hier nichts. Kritische Journalisten werden zusammengeschlagen und drangsaliert, friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst, Leben und Werk von Bürgerrechtlern brutal zerstört.
Die Ausrichtung des ESC ist hier eine tatsächlich nationale Aufgabe, ein Regierungsprogramm. Deshalb gehört zur Berichterstattung darüber auch die Berichterstattung, um was für eine Regierung es sich handelt und welche Opfer Menschen dafür bringen mussten.
Der große Parkplatz, auf dem in Baku täglich Hunderte Journalisten in Shuttle-Busse zur Kristallhalle umsteigen, ist der Ort, an dem vor kurzem noch Menschen in Mittelklasse-Wohnungen lebten, bevor sie eilig, brutal und vermutlich selbst nach aserbaidschanischem Recht ungesetzlich vertrieben wurden. Man kann es Verantwortung nennen, diese Menschen nicht zu vergessen, oder Solidarität.
Es reicht aber schon ein journalistisches Selbstverständnis, hinter die Fassaden gucken zu wollen.
Es ist nicht alles Elend, was man dort erblickt. Aber es gibt auch viel Elend, das man dort nicht auf Anhieb erkennt. Die Zahl der politischen Gefangenen zum Beispiel ist im Vergleich gar nicht so groß, die Opposition klein, die Zustimmung im Volk zum Präsidenten hoch. Aber das ist auch Ausdruck dafür, wie geschickt das Regime Macht und Geld für sich nutzt; wie drastisch und vollständig es seinen Bürgern Interesse und Engagement ausgetrieben hat.
Jan Feddersen hat die Menschen, die darüber berichten, in vielfacher Weise verunglimpft. Er hat den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung eine „Spaßbremse“ genannt und Kritiker als „Menschenrechtisten“ verspottet.
Dabei gibt es hier keinen Druck auf alle und jeden, sich zur politischen Lage zu erklären. Auf den Pressekonferenzen werden die Sänger nicht mit Fragen danach behelligt, Roman Lob darf einfach die Stadt toll finden und über Tattoos und Mützen reden. Der ESC-Zirkus darf ESC-Zirkus sein. Aber die Chance, auch kritisch hinter den Vorhang zu gucken und mehr zu erfahren, wo er gastiert, warum und zu welchem Preis, die müssen wir Journalisten nutzen. STEFAN NIGGEMEIER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht