Neurobiologische Geschlechtsunterschiede: Das Geschlecht im Kopf
Die psychologischen und hirnbiologischen Unterschiede sind kleiner als gedacht. Die Neurobiologie distanziert sich zunehmend von Rollenzuweisungen.
MÜNCHEN taz | Wenn sich bei Frauen ein Babybäuchlein wölbt, ist gemeinhin die erste Frage: Junge oder Mädchen? Erst dann erkundigen sich die meisten Menschen nach der Gesundheit von Mutter oder Kind. Warum das so ist? „Das Geschlecht ist ein Werkzeug der sozialen Kategorisierung, stärker sogar als die Ethnie“, sagt Harry Reis, Psychologe der Universität Rochester. Die Menschen nutzten dieses Schubladendenken, um eine komplizierte Welt zu vereinfachen.
„So eine Kategorisierung ist aber nur dann sinnvoll, wenn sich Männer und Frauen tatsächlich fundamental unterscheiden. Das tun sie aber nicht“, fasst der Psychologe das Ergebnis einer aktuellen Meta-Analyse zum Thema Geschlechtsunterschiede (pdf) zusammen.
In seiner Forschungsarbeit hat der Wissenschaftler 13 Studien mit mehr als 13.000 ProbandInnen ausgewertet. In den Studien wurde etwa abgefragt, wie sich die ProbandInnen in Sachen Unabhängigkeitsstreben, Gewissenhaftigkeit oder Partnerwahl verhielten.
Das Fazit: Es gibt Unterschiede, aber die männlichen und weiblichen Eigenschaften überschneiden sich über weite Teile. „Ein Mann, der stark und aggressiv ist, kann durchaus schlecht in Mathe sein“, erläutert Harry Reis.
Was der britische Psychologe hier aufgedeckt hat, ist beileibe kein Novum. In den letzten Jahren wird immer deutlicher, dass Frauen und Männer nicht unterschiedliche Planeten bewohnen, sondern durchaus beide ErdbewohnerInnen sind.
Auch die Männern zugeschriebenen Fähigkeiten, zu systematisieren oder sich in Räumen zurechtzufinden, oder die angeblich typisch weiblichen Talente wie Empathie, Sprachgefühl oder Multitaskingfähigkeit werden nicht mit den Geschlechtschromosomen in die Wiege gelegt.
Dabei verneint niemand der Forscher, dass es Unterschiede etwa in der Hirnbiologie oder dem Einfluss der Hormone Östrogen, Progesteron, Oxytozin oder Testosteron gibt. Strukturell besehen ist das Jungenhirn rund 10 Prozent größer und enthält mehr Neuronen. Das Mädchengehirn reift dagegen schneller und ist um die Pubertät ein bis zwei Jahre dem der Jungs voraus. Zudem ist der Gehirnbalken, der rechte und linke Gehirnhälfte verschaltet, bei Frauen in der Regel größer.
Allerdings lassen sich aus all diesen Unterschieden keine typisch weiblichen oder typisch männlichen Verhaltensweisen ableiten, das zeigt etwa das Beispiel Sprachverarbeitung: Das weibliche Gehirn soll wegen des dickeren Faserstrangs symmetrischer arbeiten und Frauen sprachgewandter machen.
Nicht wiederholbare Ergebnisse
So gab es etwa im Jahr 1995 eine vieldiskutierte Nature-Studie in Sachen Reimerkennung. Hierbei wurden 19 weibliche und 19 männliche ProbandInnen in den Gehirnscanner geschoben. Bei den männlichen Probanden war bei dem Test der linksseitige Hirnvorderlappen aktiv, während bei 11 Frauen beide Gehirnhälften involviert waren.
„Viele nachfolgende Studien haben diese Arbeit aber nicht belegen können“, meint Sigrid Schmitz, Gender-Forscherin an der Universität in Wien. Zudem habe die Studie wie viele andere Arbeiten zu dem Thema eine zu geringe ProbandInnenzahl, um wirklich aussagekräftig zu sein.
Trotzdem würde vor allem aufgrund dieser Studie bis heute behauptet, dass Frauen von Natur aus sprachbegabter seien, moniert Schmitz. Dabei sagt die Dicke des neuronalen Verbindungskabels nicht viel aus: So haben etwa auch beidhändige Musiker einen dickeren Faserstrang als unmusikalische Zeitgenossen, wenn sie bereits in frühen Jahren mit dem Üben beginnen.
Es ist also vor allem die Umwelt, die das Gehirn prägt und formt, es gibt keine auf alle Ewigkeit festgelegten Hirntypen, keine geschlechtspezifische Hardware. Das hat die Wiener Wissenschaftlerin auch in einem interdisziplinären Forschungsprojekt zur Raumorientierung gezeigt.
Typisches Geschlechtsverhalten
Das Ergebnis: Die individuelle Erfahrung spielt für die Ausbildung von räumlichen Strategien ebenso eine Rolle wie die Verbindung mit Sicherheits- und Angstgefühlen. Beispielsweise könnten Kinder, die schon früh allein in die Schule gehen, sich besser orientieren als Kinder, meist Mädchen, die regelmäßig aus Sicherheitsgründen zur Schule gebracht werden.
„So kann man typisches Geschlechterverhalten anerziehen“, meint Schmitz. Und das tun unbewusst auch viele Eltern: So hat eine Studie aus dem Jahr 2012 belegt, dass Eltern mit ihren 20 bis 27 Monate alten Babys unterschiedlich sprechen. Jungs werden viel öfter auf mathematische Dinge wie Formen oder Zahlen, etwa: wie viele Enten schwimmen in der Badewanne, hingewiesen als Mädchen. Und die Stereotypisierung durch die Umwelt geht weiter bei Büchern, im Spielzeugladen, in Frauenzeitschriften oder auf Werbeplakaten.
Und all dies hinterlässt Spuren: „Das Gehirn ist ein Fluidum, es entwickelt sich durch Interaktion mit der Umwelt“, meint Cordelia Fine, Psychologin an der Universität von Melbourne. „Hirnscan-Studien machen hingegen immer nur eine Momentaufnahme.“
Geschlechtsunterschiede, die sich aus hirnbiologischen Forschungsarbeiten ableiten, sind also kaum belegt und taugen schon gar nicht dazu, den Geschlechtern Rollen und Fähigkeiten zuzuweisen. Trotzdem sind heute viele Menschen überzeugt, dass Frauen einfach besser zuhören und Männer zielgenauer einparken können.
Auf wackligen Füßen
Warum? Das liegt einmal daran, dass Forschungsarbeiten, die keine Unterschiede feststellen, seltener oder weniger prominent in Fachjournalen publiziert werden und damit seltener an die Öffentlichkeit gelangen. Zudem versäumen es viele WissenschaftlerInnen, zu betonen, dass gefundene Unterschiede oft sehr klein sind oder womöglich auch Folge von Umwelteinflüssen, also erlernt.
Auch die Erklärungen für diese vermeintlich starken Unterschiede zwischen Mann und Frau stehen zunehmend auf wackeligen Füßen.
Gerne wird etwa kolportiert, die Unterschiede im Gehirn und die daraus resultierenden Fähigkeiten wären der Evolution geschuldet. So habe der Mann einen so guten Orientierungssinn, da er in der Savanne nach langer Jagd wieder nach Hause finden musste, während die Frau bemutternde Eigenschaften besitzen müsse, um ihr einen Vorteil beim Aufziehen der Kinder zu gewähren.
Dabei scheint die Steinzeit-Frau nicht so sesshaft gewesen zu sein wie angenommen. Sie hat sich laut neuester Studien als Sammlerin sehr viel weiter von der Feuerstelle weggewagt als bislang vermutet – auch sie brauchte also eine funktionierende Raumorientierung
Neurosexismus pur
Obwohl sich einige NeurowissenschaftlerInnen schon von früheren, voreilig gezogenen Schlussfolgerungen distanzieren, ist vor allem in der populärwissenschaftlichen Literatur ein regelrechter Neurosexismus zu beobachten, moniert Fine.
Allan und Barbara Pease behaupten etwa in ihrem Bestseller „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“, dass Frauen überhaupt keine Raumareale im Gehirn besäßen. Und dies ist keineswegs ein harmloses Auf-die-Schippe-Nehmen der Geschlechter. Das Herunterrattern von vermeintlich großen Geschlechtsunterschieden zementiere Stereotype und beeinflusse das Verhalten und die Leistung, glaubt Cordelia Fine. So ist das Lösen von Matheaufgaben bei Frauen abhängig davon, wie sie auf den Test vorbereitet werden, in welchem Kontext so ein Test stattfindet.
Wird ihnen etwa gesagt, dass es genetische Unterschiede beim Matheverständnis gäbe oder ist der Testraum voller Männer, oder auch wenn die Probandinnen nur ein Häkchen bei Mann oder Frau machen müssen, schneiden sie schlechter ab, als wenn es keine sogenannte Stereotypbedrohung gibt.
Das Einpark-Problem
Ähnliches belegte eine Studie der Ruhr-Universität im Jahr 2010: Frauen parkten im Durchschnitt nicht so gekonnt ein wie Männer ein, aber selbstbewusste Frauen schnitten ebenso gut ab wie das männliche Geschlecht. Aber warum ziehen sich vor allem auch Frauen, ohne aufzumucken, dieses mentale Korsett an? Warum leben so viele moderne Paare wie eine spießige Kleinfamilie, in der die Frau für Küche und Kinder zuständig ist, während der Mann zumindest den Großteil des Einkommens anschafft?
Die australische Wissenschaftlerin Fine glaubt: „Frauen nehmen das auch gern an, weil sie sich dann nicht mit den sozialen Strukturen auseinandersetzen müssen, keine ständigen Konflikte vom Zaun brechen wollen. Es ist einfacher, Rollen als naturgegeben hinzunehmen.“
Gerade in Zeiten der wirtschaftlichen Krise, in der große Teile der Mittelschicht sich vor einem sozialen Absturz fürchten, werden tradierte Rollen anscheinend kaum mehr hinterfragt.
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