Gewalt in Ägypten: Ein Monat Ausnahmezustand

Der Staat greift durch und will gewaltsam für Ruhe sorgen. Die Polizei hatte zuvor die Lager der Mursi-Anhänger geräumt. Mehr als 100 Menschen wurden getötet.

Angriff von Spezialeinheiten auf ein Camp der Muslimbrüder in Kairo. Bild: dpa

KAIRO ap/dpa/rtr/afp | Nach den blutigen Zusammenstößen zwischen den ägyptischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi ist ein einmonatiger Ausnahmezustand über das Land verhängt worden. Das teilte das Präsidialamt in Kairo am Mittwoch mit. Der Ausnahmezustand werde um 16 Uhr (MESZ) beginnen, hieß es in einer Erklärung, die kurz vor diesem Zeitpunkt im staatlichen Fernsehen verlesen wurde.

Zuvor war es bei der Räumung der Protestlager der Islamisten in Kairo am Mittwoch zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Augenzeugen berichteten, die Polizei habe Tränengas-Granaten und Gummigeschosse abgefeuert. Die Islamisten hätten Steine und Flaschen auf die Polizei geworfen.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind dabei mindestens 149 Menschen getötet worden. Unter den Toten seien vier Polizisten. Die Zahl der Opfer werde vermutlich noch steigen, sagte ein Beamter.

Ägyptische Sicherheitskräfte waren am Mittwochmorgen kurz nach 7.00 Uhr mit Bulldozern, gepanzerten Fahrzeugen und Tränengas gegen die beiden Lager in den Kairoer Stadtteilen Nasr City und in Giseh vorgerückt. Die Mursi-Anhänger hatten dort wochenlang ausgeharrt. Sie forderten die Wiedereinsetzung des am 3. Juli vom Militär gestürzten Präsidenten. Die Übergangsregierung hatte ihnen mehrmals Ultimaten zum freiwilligen Abzug gestellt.

Das Innenministerium warnte zu Beginn der Räumungsaktion, es werde entschlossen gegen Protestierende vorgehen, die sich „unverantwortlich“ verhielten. Dagegen sicherte das Ministerium jenen freies Geleit zu, die die Camps freiwillig verlassen wollten. Das ägyptische Nachrichtenportal youm7 meldete, vor allem Frauen hätten die Zeltstädte am frühen Morgen verlassen.

Ein Reporter der Nachrichtenagentur AP berichtet von dem Lager in Nasr City, er habe Schreie von Frauen gehört. Über dem Camp hänge eine Wolke weißen Rauchs. Bulldozer der Armee seien dabei, die Sandsack- und Ziegelbarrieren abzuräumen, hinter denen sich die Protestierenden verschanzt hatten. Soldaten der Armee seien aber nicht an der Räumung beteiligt, sagte der Reporter. Über der Stadt kreisten Helikopter.

Bei der Räumung des Islamisten-Protestlagers an der Rabea-al-Adawija-Moschee in Kairo sollen Polizisten und Demonstranten aufeinander geschossen haben. Ein dpa-Reporter hörte am Mittwochmittag heftige Schusswechsel direkt neben der Moschee und sah, wie gepanzerte Fahrzeuge der Polizei in die Mitte des Zeltlagers vordrangen. Ein Polizist ist während der Räumung des Protestlagers im Stadtteil Nasr-City verschwunden. Ein Sprecher der Polizei sagte, er sei vermutlich von Anhängern der Muslimbrüder verschleppt worden. Die Einsatzkräfte hätten damit begonnen, das Viertel zu durchkämmen.

Tränengaswolken

Der Sender Al-Arabija zeigte aus Nasr City Bilder von Tränengaswolken, in sich zusammengestürzten Zelten und brennenden Reifen. Auch Krankenwagen waren auf Fernsehbildern zu sehen, ebenso einige Festnahmen. Protestierende wurden von Sicherheitskräften weggeführt. Bilder eines Pro-Mursi-Senders zeigten, wie Tausende Unterstützer des Ex-Präsidenten in der Mitte des Lagers in Nasr City zusammengedrängt waren. Die meisten hatten ihre Gesichter verdeckt, um sich gegen das Tränengas zu schützen.

Nachdem die Räumung begonnen hatte, protestierten Anhänger der Muslimbrüder in mehreren Provinzen. Auf dem Sinai stürmten bewaffnete Islamisten mehrere öffentliche Gebäude. In Sohag in Oberägypten wurde eine Kirche angezündet. Christliche Aktivisten in Kairo gaben an, Angreifer hätten Feuer auch vor Gotteshäusern in der Provinzen Minia gelegt.

„Nachdem das ägyptische Innenministerium entschieden hat, die Sit-Ins der Muslimbrüder in Kairo aufzulösen, haben Unterstützer der Muslimbrüder in Oberägypten einen Rachefeldzug gegen koptische Christen begonnen“, schrieb die Organisation Maspero Jugendunion im Online-Netzwerk Facebook.

In der Innenstadt der Touristenstadt Luxor versammelten sich rund 300 Demonstranten, um gegen die Polizeigewalt zu protestieren. Sie zerstörten einen Polizeiwagen und brachen einem Polizisten ein Bein. In der Stadt Assuan stürmten Islamisten laut Augenzeugen ein Verwaltungsgebäude, ohne dass die Polizei eingriff.

EU ruft zur Zurückhaltung auf

Die Europäische Union hat die ägyptischen Behörden zu Zurückhaltung gegenüber den Anhängern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi aufgerufen. Die Berichte über Tote und Verletzte seien sehr besorgniserregend, sagte ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton am Mittwoch in Brüssel. „Wir weisen nochmals darauf hin, dass Gewalt nicht zu einer Lösung führen wird und rufen die ägyptischen Behörden auf, mit der größtmöglichen Zurückhaltung vorzugehen.“

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte alle Seiten zum Gewaltverzicht auf. „Jedes weitere Blutvergießen in Ägypten muss verhindert werden“, sagte Westerwelle am Mittwoch vor Journalisten in Berlin. Die Übergangsregierung müsse „friedliche Proteste zulassen“. Ebenso erwarte Deutschland von den anderen politischen Kräften, „dass sie sich klar von Gewalt distanzieren, dass sie nicht zu Gewalt aufrufen und auch nicht gewalttätig handeln“.

Seit Mursis Sturz waren bereits mindestens 250 Menschen bei Straßenprotesten und Zusammenstößen mit der Polizei ums Leben gekommen. Die Anhänger von Mursis Muslimbrüderschaft werfen dem Militär vor, den demokratisch gewählten Präsidenten weggeputscht zu haben. Die Übergangsregierung hatte der Polizei vergangene Woche grünes Licht für die Räumung der zwei Lager gegeben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.