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Kolumne NüchternWeingutscheine von Amazon

Daniel Schreiber
Kolumne
von Daniel Schreiber

Das derzeit beste Fernsehformat für Trinker heißt „Mom“ und kommt aus den USA. In Deutschland wäre eine solche Serie unvorstellbar.

Der Trinker sieht: flaschenweise Wein. Der Nüchterne sieht vielfarbiges Laub. Bild: dpa

S elbstbetrug ist eine geradezu kosmische Kraft, er schafft ganze, kleine dysfunktionale Welten. Wir alle kennen das. Wir verleugnen bestimmte Seiten an uns, die wir nicht mögen, verschließen die Augen vor Problemen, die unlösbar scheinen, erzählen uns Geschichten über uns selbst.

Als Trinker ist man da natürlich Experte. Man richtet sich sein Arbeitsleben so ein, dass das Trinken möglich ist. Man findet, ohne dass es einem notwendigerweise bewusst wäre, auch Freunde und Partner, die das so hinnehmen. Und ebenso schlafwandlerisch navigiert man sich in Lebensdramen, die den Schleier alkoholischen Vergessens fast schon notwendig erscheinen lassen.

Meine Lieblingsserie im Moment heißt „Mom“. Sie ist diesen Herbst auf dem amerikanischen Fernsehsender CBS angelaufen, stammt aus der Feder von Chuck Lorre, dem Autor von „The Big Bang Theory“, und macht aus dem Drama trunkener Verleugnung ein unfassbar komisches Kammerspiel.

„Mom“ handelt von einer alleinerziehenden Mutter und Kellnerin, die, gerade nüchtern geworden, versucht, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen – permanente Stimmungsschwankungen, Episoden des Wahnsinns und der Hilflosigkeit inklusive. Erschwert wird ihr Unterfangen unter anderem von ihrer recht explosiven Mutter, einem ehemaligen Partygirl, die mit ihr zusammen in AA-Meetings sitzt.

Kollektiver Selbstbetrug

In Deutschland wäre eine solche Serie unvorstellbar, nicht zuletzt weil Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker, die Guttempler oder das Blaue Kreuz hierzulande das unverdiente Image von pseudoreligiösen Zusammenkünften für Sozialschwache genießen. Bei uns redet man zwar gerne über das Trinken, aber nicht über die Folgen, die es haben kann, und schon gar nicht über Abstinenz. Selbstbetrug findet hierzulande auf einer sehr viel ausgeprägteren kollektiven Ebene statt als anderswo.

Wenn man nicht trinkt, nervt das gewaltig. Immer wieder etwa bekomme ich Anfragen wie die von den Kollegen der sonntaz vor ein paar Wochen. Ob ich nicht eine Reportage über das Oktoberfest schreiben wolle – mit dem journalistischen Clou aber, dass ich dafür trinken würde! Eine brillante Idee. Oder es passieren Sachen wie bei Amazon: Als ich dort Bücher über Nüchternheit und Alkoholismus zu bestellen begann, lagen den Lieferungen plötzlich sehr großzügige Weingutscheine bei. 50 Euro hätte ich neulich wieder bei irgendeinem Chianti-Paket sparen können. Yes!

Wenn Trinkgewohnheiten sich verselbständigen, sind Verdrängung und Selbstbetrug der naheliegende Weg, mit der resultierenden Hilflosigkeit umzugehen, auch auf kollektiver Ebene. Eine Zeit lang sind sie einfach die beste Strategie, um die konstanten Krisen durchzustehen und das Gespräch darüber zu vermeiden.

526 Millionen Euro für Alkoholwerbung

Als ich vor zwei Monaten an dieser Stelle eine Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen über die Vervierfachung des deutschen Alkoholkonsums seit 1950 veröffentlichte, regnete es bitterböse Leserkommentare. Die Statistik könne einfach nicht stimmen.

Deshalb nun noch ein paar Zahlen: Den 10 Millionen Euro, die bei uns jährlich für Aufklärungskampagnen ausgegeben werden, stehen 526 Millionen Euro gegenüber, die Alkoholhersteller in Werbung investieren. Jeder durchschnittliche Deutsche trinkt im Jahr eine Badewanne voll Bier, Wein und Spirituosen, eine Menge, die zu zahlreichen psychischen Störungen, Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Problemen führt.

Alkohol trägt in unserem Land stärker zu einer Verkürzung der Lebenszeit bei als der Zigarettenkonsum. Jährlich sterben bei uns 74.000 Menschen durch das Trinken. Die Droge, von der in den Medien im vergangenen Jahr am meisten berichtet wurde, war Chrystal Meth. Nur zehn Prozent der Alkoholiker kommen hierzulande in Behandlung. Cheers!

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Daniel Schreiber
Schreibt für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und das Radio über Literatur und Kunst. Sein Buch "Susan Sontag. Geist und Glamour", die erste umfassende Biografie über die amerikanische Intellektuelle, ist im Aufbau-Verlag und in amerikanischer Übersetzung bei Northwestern University Press erschienen. Im Herbst 2014 kommt sein neues Buch "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück" bei Hanser Berlin heraus. Darin erzählt er seine persönliche Geschichte und macht sich über die deutsche Einstellung zum Trinken und Nicht-Trinken Gedanken. Schreiber lebt in Berlin. ( http://daniel-schreiber.org )
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6 Kommentare

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  • R
    Rougesang

    Es gibt Menschen die können trinken, und die sollen sich freuen dürfen am edlen Tropfen und am kalten Bier, und es gibt Menschen die können es nicht weil bei denen hat es bald oder irgendwann schrecklich unmenschliche Konsequenzen - für sie und für Andere.

    Ich glaube in der Kolonne "Nüchtern" soll es darum gehen, dass es gar nicht abwegig ist - wenn jemand zu Kategorie 2 gehört - das dieser Mensch gut leben kann ohne Alkohol, und sich manchmal vielleicht wundert, warum dies sich hierzulande noch nicht so stark herumgesprochen hat wie in den USA.

    Am Anfang der Genesung vom Alkoholismus, das weiß man nun fast überall auf der Welt gehört nun mal in den meisten Fällen, die komplette Alkoholabstinenz.

    Dann erst darf man beginnen, zu genesen und eventuelle Traumata zu be- und verarbeiten. Also kein "Ergötzen an der eigenen Standhaftigkeit".

    In Deutschland, wird hierfür gerne Psychopharmaka verabreicht. In den USA gehen die Menschen zu AA und unterstützen sich mit viel Liebe und Hingabe gegenseitig.

    Ich finde das gut. Im Moment vielleicht sogar wenn überhaupt der beste und geheimste Exporthit der USA.

    Da kann man ruhig hinschauen und sich freuen. Auch wenn frau selber gerne trinkt.

  • Am Anfang stehen soziale Isolation, psych. Krankheiten, traumatische Erlebnisse, schwere Kindheit.

    Darauf folgt nicht selten Alkoholmissbrauch als Kompensat der seelischen Schieflage. Nicht der Alkohol verführt , sondern die psych. Lage des Menschen verführt zum Alkohol. Man kann alle Werbung verbieten, kann es noch so öffentlich debattieren, doch die Ursache wird wenig berührt.

     

    Schauen Sie ruhig weiter Ihre Serie und ergötzen Sie sich an der eigenen „Standhaftigkeit“. Schön, dass die Amis ihr Problem so bald in den Griff bekommen werden und ganz nebenbei noch ihre gelangweilten Trockenspanner unterhalten.

  • 7G
    738 (Profil gelöscht)

    Das ist die gnadenlose Logik des statistikgläubigen Zahlenschrauber: Erst mal eine unbewiesene Statistik zitieren, die eine Lobbyistenstelle veröffentlich hat, dann über die Leserkritik heulen. Zu Schluss einfach noch einmal ein paar Zahlen nachwerfen, frei nach der statistischen Deduktion: Autowerbung geteilt durch Verkehrtote ergibt den Verkehristschlechtkoeffizienten.

    Ob Alkohol gut oder schlecht für eine Gesellschaft ist möchte ich nicht beurteilen, ab hören Sie bitte mit dem Zahlengeschwurbel auf und bemühen sie nicht den erhobenen Zeigefinger - auch wenn Sie unbedingt etwas über ihre aktuelle Lieblingsfernsehserie loswerden wollen.

  • J
    Jan

    Hier zu Lande muss man sich rechtfertigen sich nicht am Alkohol zu berauschen.

    Und der Fussel steht an der Supermarktkasse neben den Überraschungseiern.

    • @Jan:

      Nach "rechtfertigen" muss ein Komma folgen. Ein Fussel ist ein kleiner Textilrückstand oder eine Staubflocke auf der Kleidung. Der Fusel ist minderwertiger bis schlechter Alkohol. Nicht jedes Alkoholangebot im Supermarkt ist minderwertig oder sogar schlecht. Lieber Jan, genießen Sie Ihr alkoholfreies Leben und - vermutlich - Ihre mindestens vegetarische, wahrscheinlich aber vegane Ernährung. Senken Sie bitte den erhobenen Zeigefinger und lassen Sie uns Epikureer das Leben genießen.

      • 1G
        164 (Profil gelöscht)
        @Hartwig Lein:

        Hartwig, ich bitte Sie! Ein echter Epikureer wie Sie zwackt sich die erhobenen Zeigefinger einfach ab und rührt damit seine Pinha Colada um oder wendet sie ein paar mal auf dem Grill!