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Schlagloch ÄgyptenMacht und Selbstkritik

Kolumne
von Sarah Eltantawi

Der jüngst begonnene Prozess gegen den Ex-Präsidenten Mursi ist eine Farce. Trotzdem hilft er bei der Emanzipation in Ägypten.

Kairo, 4. November. Prozess gegen Mursi und 14 seiner Anhänger. Wie immer steckt man die Angeklagten während der Verhandlung in Käfige. Bild: reuters

D er Prozess gegen Mursi hat begonnen und er macht die Archillesferse bei Militär und Islamisten sichtbar.

Der Prozessautakt verlief alles andere als glatt. Immer wieder fragten sich die vom Prozess ausgeschlossenen Kommentatoren vor laufender Kamera: Warum wurden keine Medienvertreter zugelassen? Hatte Mursi ordentlichen Zugang zu seinen Anwälten?

Schließlich stellte sich heraus, dass Mursi selbst entschieden hatte, sich alleine zu verteidigen. Er sei derPräsident des Landes und das „Staatsstreich-Gericht“ entbehre jeder Autorität. Mursi weigerte sich, die für Angeklagte vorgeschriebene weiße Kleidung zu tragen.

Ein Video zeigte dann, wie die anderen 14 Angeklagten den Gerichtssaal betraten. Sie, genauso wie Mursi, machten das „Raba“-Zeichen (4-Finger-Handzeichen) in Solidarität mit den Muslimbrüdern, was manche Journalisten freute, die Gesichter der Richter indessen blieben versteinert. Am Ende wurde der Prozess auf den 14. Januar 2014 vertagt.

Mursis Verteidigungslinie

Mursi werden zwei Dinge zur Last gelegt: So soll er am 5. Dezember 2012 zu Mord und Totschlag aufgerufen haben. Neun Menschen kamen bei den Protesten rund um Präsidentenpalast ums Leben, darunter vier Muslimbrüder. Ausserdem dem wird ihm Kollaboration mit der Hamas vorgeworfen.

Mursi dürfte bei seiner Verteidigung die Argumente wiederholt haben, die wir bereits kennen: Es bestehe kein Zusammenhang zwischen seinem Aufruf und den Toten. Er habe nur gefordert, den Präsidentenpalast gegen Angriffe zu „schützen“. Zudem seien in dieser Nacht mehr Muslimbrüder gestorben als Mursi-Kritiker.

Seine Gegner finden: Die Muslimbrüder sind eine terroristische Vereinigung. Die staatlichen Medien zu benutzen, wie es der Sprecher von Mursi getan hat, um eine Gruppe (Muslimbrüder und Anhänger) gegen eine andere aufzuhetzen (in dem man die Mursi-Gegner als „Diebe“ denunzierte, die verhaftet gehörten), beweise diese verräterische Gesinnung. Beide Argumente haben etwas für sich.

Für mich aber ist entscheidend, dass der Prozess eine Farce ist, einfach weil das Militär selbst nie für die Verbrechen an Zivilisten zur Verantwortung gezogen wurde. Weder in Maspero noch gegen Mursi-Unterstützer bei der Moschee Raba‘a. Ägypten braucht eine Rechtssprechung, die für alle gilt.

Just am Tag des Prozessbeginns wurde ich vom englischen Sender von Al-Jazeera zu einer Diskussion eingeladen, gemeinsam mit einem Sprecher der Muslimbrüder. Entmutigenderweise musste ich erleben, dass das Mursi-Lager nach wie vor jede Analyse der blutigen Zusammenstöße verweigert. Statt die Kritik an ihrer Regierungsweise auch nur zur Kenntnis zu nehmen, flüchten sie sich mehr denn je in apokalyptische Fantasien. Mursi, so wurde mir gesagt, sei noch immer Präsident und würde demnächst reinstalliert. Wie kann jemand wieder eingesetzt werden, wenn er noch im Amt ist? Das wurde mir nicht erklärt.

Konterrevolution des Militärs

Auch nicht, wie eine Wiedereinsetzung vonstatten gehen sollte, dabei wäre das doch ein sehr interessanter Punkt. Immerhin genießt die Armee, inzwischen wieder große Popularität, indessen die Ressentiments gegen die Muslimbrüder in der breiten Bevölkerung weiter zunehmen. Wer Mursi wieder an die Macht bringen will, risikiert einen Bürgerkrieg.

Dieser Tage versuche ich, meine Träume von einem neuen Ägypten bescheiden zu halten. Ich wünsche mir nur, die Muslimbrüder würden mit ihrer Hetze aufhören. Die Ereignisse vom 30. Juni sind komplex und mit einem simplen „Staatsstreich“ des Militärs nicht adäquat zu beschreiben. Wie immer man die Regierung Mursi und die Proteste gegen sie einschätzt, man kann sie nicht einfach leugnen. Die Muslimbrüder sollten schon aus Eigeninteresse aufhören, Andersdenkenden ausschließlich mit Ignoranz und Verachtung zu begegnen. Genau diese Haltung füttert die Annahme, sie wären Terroristen.

Bleibt zu erwähnen, dass in Ägypten die Repression gegen Islamisten massiv zunimmt. Generell schürt das Militär eine Atmosphäre der Angst, um zu ’ihrem‘ autoritären Staat zurückzukehren. Kurz gesagt: Sie betreiben die Konterrevolution.

Doch diese Konterrevolution wirft Ägypten nicht auf die Position von 2011 zurück. Und genau die Ambivalenz von der 2. Revolution/Staatsstreich ist ein Geschenk. Die ägyptische Gesellschaft ist heute mehrheitlich aufmerksam, politisiert und mutig. So haben ägyptische Schiiten erklärt, dass sie Aschura (den höchsten Trauertag der schiitischen Muslime) dieses Jahr in der Hussein-Moschee begehen wollen und damit die Salafisten offen vor den Kopf gestoßen.

Visionen für den dritten Weg

Die Verbreitung des Mythos, die Armee spiele eine „neutrale“ oder „protektive“ Rolle, erlaubt der Bevölkerung eine beobachtende Rolle einzunehmen und sich vom starren Gegensatz Militär versus Islamisten zu lösen. Diese Erzählung muss endlich beendet werden, und wir haben jetzt die Chance dazu und nach einem dritten Weg zu suchen, also neue Visionen zu entwickeln und zu schärfen.

Ob sich Ägypten nach vorne entwickeln kann, hängt vom Verhalten dreier Gruppen ab: Erstens müssen die Islamisten einen Umgang finden mit ihrer Unpopularität im Land und ihrem selbstzerstörerischen Kurs, ihre Niederlage eingestehen und sich ideologisch neu sortieren. Zweitens muss die Armee begreifen, dass sie nur dann eine respektierte Rolle in Ägypten spielen kann, wenn sie Schluss macht mit ihrer totalen Straffreiheit und Arroganz. Auch das erfordert eine intensiven Selbstkritik. Drittens müssen die Ägypter,die die Ziele der Revolution „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ unterstützt haben, der Hegemonie der Islamisten als auch der Militärs widersetzen und eine Vision von Ägypten zu entwickeln, die möglichst viele Ägypter anspricht und einschließt.

Viele werden jetzt sagen, dass sei unmöglich. Aber auch sie werden zugeben müssen, dass Ägypten sie in jüngster Vergangenheit schon öfter überrascht hat.

Übersetzung aus dem Englischen: Ines Kappert

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