Italian Occult Psychedelia: Musik mit goldenem Pferdeschädel
In Italien hat sich eine neue musikalische Bewegung gebildet, die „Italian Occult Psychedelia“. Treffpunkt ist das Thalassa-Festival in Rom.
Der Stadtteil Pigneto im Osten Roms gehört nicht gerade zu den klassischen Reisezielen für Sehenswürdigkeitstouristen. An der Nordseite ist das Viertel begrenzt von der Via Prenestina, einer betonbrutalistischen Hochstraße, die nachts den starken Eindruck vermittelt, man sollte besser nicht allein in ihrem Schatten spazieren gehen.
Sobald man diese Demarkationslinie verlässt, findet man sich auf Straßen mit schmutzigen Gehwegen und leicht heruntergekommenen Häusern, deren Patina mehr von Elend als von Ruinencharme erzählt. Die Gentrifizierung hat zwar auch vor Pigneto nicht haltgemacht, doch an einigen Ecken ist von ihr noch nicht viel zu merken.
Zwei Parallelstraßen von der Via Prenestina entfernt, verläuft die Via Luchino dal Verme, benannt nach einem Heerführer aus dem Spätmittelalter. An einer Ecke, in einem ehemaligen Lebensmittelgeschäft, residiert seit 2009 der Club Dal Verme. Ein ironisch gewählter Name – wörtlich übersetzt bedeutet er „Zum Wurm“. Der schmale Raum beherbergt eine Bar, im hinteren Teil führt eine enge Steintreppe in einen schwarz gestrichenen, schallisolierten Keller von 35 Quadratmetern, in dem 80 Zuhörer halbwegs bequem Platz finden.
Zentrum einer neuen musikalischen Untergrundbewegung
Dieser eher übersichtliche Ort ist das Zentrum einer neuen musikalischen Untergrundbewegung, die sich „Italian Occult Psychedelia“ nennt. Jährlich trifft man sich im Dal Verme beim Thalassa-Festival, das am Osterwochenende 2015 seine dritte Ausgabe feierte. Aus ganz Italien kamen Musiker für drei Tage angereist, aus Venedig und Sizilien, aus Sardinien und der Lombardei. Und selbstverständlich auch aus Rom.
Man spielte düstere Ritualmusik, psychedelische Exerzitien, tribalistische Elektronik und so einiges mehr. Bereits vorab waren die Festivalpässe ausverkauft. Im Publikum herrschte ein vertrauter Umgang, Fans und Musiker standen dicht an dicht.
Der Stadtteil Pigneto und das Dal Verme spielen bei der Entstehung der Italian Occult Psychedelia die tragende Rolle. Schon vor der Zeit von Thalassa haben sich die Musiker des Viertels, die im Umkreis eines Kilometers leben, im Dal Verme organisiert. Treibende Kraft dieses Prozesses ist der nimmermüde Toni Cutrone, der in Personalunion Mitgründer des Dal Verme, Betreiber des Labels No=Fi Recordings und als Musiker mit seinem Drone-Projekt Mai Mai Mai aktiv ist.
Manifest der Musiker in Pigneto
Im Jahr 2011 veröffentlichte Cutrone auf seinem Label den Schallplattensampler „Borgata Boredom – Music And Noise From Roma Est“ und schuf damit ein Manifest der Musiker in Pigneto, die von Hardcore über New Wave bis zu Noise allerhand schroffe Klänge boten.
„Bei Borgata Boredom gab es das starke Gefühl, im selben Viertel zu leben, das schön, dreckig und manchmal sehr rau ist“, sagt Cutrone am Rande des Festivals. „Die Poesie Pasolinis lebt hier immer noch. Er hat viele Filme in dieser Gegend gedreht, und es ist noch einiges von seinem Vermächtnis zu spüren. Andererseits ist es schon hart, hier zu leben, es ist ein gewalttätiger Ort. Borgata Boredom hat diese beiden Gefühle von Romantik einerseits und der harten Realität andererseits vermischt.“
Eines der berühmtesten Beispiele ist die Band Heroin in Tahiti, die Surfrock und Morricone-Soundtracks zu finsteren Collagen mischt. Ihr aktuelles Album „Sun and Violence“ erschien passenderweise am Ostersamstag, dem letzten Tag des Festivals.
Mit anderen Bands in Kontakt getreten
Borgata Boredom erweiterte sich dann rasch zu Italian Occult Psychedelia, so Cutrone. „Man könnte sagen, dass Borgata Boredom, was eine wirklich lokale Sache war, uns dazu gebracht hat, etwas zu tun, das ganz Italien und sogar Europa betrifft. Wir sind mit anderen Bands in Kontakt getreten und haben uns zu einer größeren Szene entwickelt.“
Anders als Borgata Boredom lasse sich die italienweite Bewegung jedoch nicht so leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. „In der Hauptsache geht es bei der Italian Occult Psychedelia um eine Besinnung auf unsere italienischen Wurzeln, in der Musik oder im Film.“
So spielten die Soundtracks von Horrorfilmen eine ebenso große Rolle wie psychedelische Bands der siebziger Jahre, namentlich Aktuala. Deren Perkussionist Lino Capra Vaccina war denn auch als eine Art Ehrengast bei Thalassa zugegen. Capra Vaccina, mit Abstand der älteste Musiker unter den überwiegend jungen Künstlern, spielte an Vibrafon, Gong und anderer Perkussion ein minimalistisch-hypnotisches Programm, das weniger okkult als diskret psychedelisch klang.
Free Jazz mit nostalgischem Hippie-Gestus
Das Label „Italian Occult Psychedelia“ verdankt die Bewegung dem Journalisten Antonio Ciarletta, der den Begriff zum ersten Mal 2012 im italienischen Musikmagazin Blow Up verwendete. Man sollte ihn gleichwohl nicht streng auf alle Bands anwenden. Das Jooklo Duo etwa aus Venedig, bestehend aus der Saxofonistin Virginia Genta und dem Schlagzeuger David Vanzan, spielte technisch versierten Free Jazz mit nostalgischem Hippie-Gestus – präzise und wuchtig.
Ebenfalls kaum okkult-psychedelisch gaben sich die in Sizilien ansässigen Control Unit, ein Projekt des Gitarristen Ninni Morgia und der Sängerin Silvia Kastel, die der kaputten Atmosphäre von Industrial und Noise-Rock durch avancierte Klangmanipulationen einen sehr eigenen Dreh gaben. Oder das erst vor einem knappen Jahr gegründete römische Duo Back to Mercury, in deren Musik sich rhythmisch komplexes Gitarren- und Schlagzeugspiel mit statischen Elektronik-Beats verbindet.
Typischere Vertreter des Festivals waren Bands wie Al Doum & The Faryds, die sich in Anlehnung an Vorbilder wie Aktuala auf langgestreckte, ethnisch angehauchte Trips begaben – flirrend-bunte Lightshow und Turbane als Kopfbedeckung inklusive.
Aus den Wäldern Sardiniens
Ebenso The Great Saunites aus den Marken mit ihrem monumentalen, vom brachialen Bass getragenen Stoner Rock. Eindeutig okkult präsentierten sich insbesondere Hermetic Brotherhood of Lux-Or, mit einer dräuenden Industrial-Klangwolke, martialisch hämmerndem Beat und einem Saiteninstrument aus einem golden bemalten Pferdeschädel als Hauptattraktion. Die Band aus den Wäldern Sardiniens tritt bei anderer Gelegenheit gern auch mit traditionellen Masken auf.
Nach der politischen Einstellung der Musiker gefragt, stellt Cutrone klar: „Die meisten Leute sind eher durch ihren Lebensstil und ihre Do-it-yourself-Haltung politisch. Und die engagierten Musiker sind links orientiert, mit der rechten Szene haben sie nichts zu tun.“
Dal Verme betreibt zudem einen eigenen Kulturverein, der in der Stadt mit lokalen Projekten aktiv ist und verlassene Orte wie Häuser oder Parks nutzt, um dort Festivals und Konzerte zu veranstalten. „Wir versuchen so, der Stadt und den Leuten diese Orte zurückzugeben.“
Eine kleine Familie
Wenn Cutrone über das Dal-Verme-Umfeld spricht, ist stets die enge Verbundenheit zu spüren. „Wir sind eine kleine Familie“, sagt Cutrone mehrmals im Gespräch. Seien es die Freundschaften der Musiker untereinander, die assoziierten Labels – neben Cutrones No=Fi Recordings sind Yerevan Tapes und die im nördlichen Treviso beheimateten Boring Machines die entscheidenden Adressen – oder der wenige hundert Meter vom Dal Verme entfernte Plattenladen Radiation.
„Radiation war einer der ersten Läden, der sich für die lokalen Entwicklungen starkgemacht hat. Nicht nur in der Stadt, sie arbeiten sogar als Vertrieb und verbreiten unsere Sachen in Europa, den Vereinigten Staaten und Japan“, erklärt Cutrone.
Trotzdem soll es das Thalassa-Festival im nächsten Jahr nicht mehr geben, zumindest nicht in Rom. Man habe mit den drei Ausgaben gesagt, was zu sagen ist, meint Cutrone. Jetzt arbeite man an einer verkleinerten Version des Festivals in anderen europäischen Städten. „Cool wäre ein Thalassa in London, Paris oder Berlin.“
Bei Cutrones zielgerichteter Ausdauer dürfte sein Wunsch wohl bald in Erfüllung gehen.
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