Vergrabener Leninkopf in Berlin: Der Dickschädel muss warten

Für eine Ausstellung soll der Kopf eines 1991 abgerissenen Lenindenkmals ausgegraben werden. Doch ein paar Zauneidechsen verhindern dies - noch.

Da fliegt er: Abriss des monumentalen Berliner Lenin-Denkmals 1991. Bild: ap

Fast ist es ein bisschen unheimlich hier. Der Ort war auf Google Maps unschwer zu erkennen, nicht aber das Geländeprofil. Der Hang fällt wohl an die 20 Meter steil ab, zwischen den Bäumen wächst langes Gras, das vom Regen feucht und rutschig geworden ist. Ab und zu tritt man auf etwas Morsches und sinkt knöcheltief ein. Hoch oben knarren Äste im Wind. Kein Mensch weit und breit, und träfe man plötzlich einen, es wäre wohl noch unheimlicher. Am Boden der alten Kiesgrube angekommen, beginnt das Rätselraten. Irgendwo hier muss er liegen. Fragt sich bloß, wo.

Dürfen wir ein kleines Gedankenexperiment mit Ihnen veranstalten? Nehmen Sie mal an, Sie hätten eine Leiche im Keller und müssten diese verschwinden lassen. Okay, das ist moralisch ein bisschen bedenklich, aber, wie gesagt, Sie sollen sich das ja nur vorstellen. Was würden Sie machen? Den Körper in eine Wand einmauern? Ihn in Säure auflösen? Im Wald vergraben?

Das mit der Wand geht oft nicht gut, Kenner der Geschichten von Edgar Allan Poe wissen das. Die Säure ist zwar eine gründlichere Lösung, vielleicht aber auch zu gründlich – wer „Breaking Bad“ gesehen hat, weiß Bescheid. Bleibt der Wald. Und in diesem Fall versteht sich von selbst, dass es darum gehen muss, eine möglichst entlegene Stelle suchen. Eine, an die sich normale Menschen nicht verirren.

Genauso hat es der Senat gemacht. Damals, vor fast 24 Jahren, als spezialisierte Abrissfirmen für viel Geld und mit großem Aufwand den Lenin vom Leninplatz in 125 Stücke zersägt hatten. Groß war der Aufwand gewesen, weil das haushohe Denkmal, das die DDR-Regierung zum 100. Geburtstag des Revolutionsführers in Friedrichshain hatte aufstellen lassen, einen Kern aus Beton hatte, der sich den Werkzeugen des historisch überlegenen Systems lange widersetzte. Außen bestand Lenin aus rotem ukrainischen Granit, in Form gebracht vom russischen Bildhauer Nikolai Tomski.

Anfang 1992 war der sowjetische Riese dank Wasserstrahlschneidetechnik endlich besiegt. Das eingangs erwähnte Problem, den ideologisch kontaminierten Corpus Delicti aus dem Weg zu schaffen, löste der Senator für Stadtentwicklung, ein gewisser Volker Hassemer von der CDU, indem er ihn den Berliner Forsten zur Verwahrung übergab. Die verbuddelten die 125 Lenin-Portionen tief im Wald, irgendwo zwischen Müggelheim und der Landesgrenze. Sollte doch Gras drüber wachsen.

Man hatte sich vor dem Abriss weidlich gestritten in der Stadt. Durfte man Lenin einfach einen Kopf kürzer machen? Sollte man? Nicht nur die seinerzeit noch sehr lebendigen Altkader waren anderer Ansicht – sie versuchten vergeblich, den Rückbau zu stören –, auch besonnenere Leute wollten ihn lieber stehen lassen, etwa Hassemers parteiloser Kollege Ulrich Roloff-Momin, Senator für kulturelle Angelegenheiten, oder der HdK-Professor Hans-Ernst Mittig, der Denkmäler als Zeugnisse ihrer Entstehungszeit lesen wollte und es zudem wichtig fand, „dass inmitten einer Welt aus Kunst- oder Ersatzstoffen noch Naturmaterial erlebbar bleibe“.

Vier Ösen im Kopf

Das alles ist fast ein Vierteljahrhundert her, und nun kommt Andrea Theissen ins Spiel. Die will Lenin wieder ausgraben lassen. Nicht alles – nur den Kopf, in den Arbeiter Ende 1991 vier Ösen drillten, um den Arbeiterführer per Kran enthaupten zu können. Theissen leitet das Kunstamt in Spandau und will das steinerne Haupt dort ausstellen, als ein Glanzstück der Ausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“ in der Zitadelle. Genau genommen wird es mehr ein Museum als Ausstellung sein, auf 20 Jahre ist das Ganze vorerst angelegt.

Ruft man dieser Tage bei Andrea Theissen an, um nach Lenin zu fragen, muss sie erst einmal lachen, gibt dann aber gerne Auskunft. Ganz ungelegen kommt ihr das Interesse an der prominenten Leiche im Wald dann auch wieder nicht, immerhin gibt es ihr die Gelegenheit, Werbung für das gesamte Projekt zu machen. Es soll Denkmäler präsentieren, die das Stadtbild in bestimmten Epochen prägten, dann aber verschwanden, vergessen wurden, im Depot verstaubten oder eben unter der Erde landeten.

Die Siegesallee wird dazugehören: an die 30 marmorne Figurengruppen aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte, die Wilhelm II. einst im Tiergarten aufstellen ließ. Nach dem Krieg standen sie jahrzehntelang im Kreuzberger Lapidarium herum, einem historischen Pumpwerk am Halleschen Ufer, das vor ein paar Jahren vom Liegenschaftsfonds an einen privaten Investor verkauft wurde. Eine dieser Figurengruppen will die Kuratorin in eine Installation mit Ton- und Lichteffekten integrieren, die einen Sommertag im Tiergarten des Jahres 1907 wiedererlebbar machen soll.

Auch ältere Objekte wird es geben – Denkmäler für die Helden der „Befreiungskriege“ – und jüngere: Kriegerdenkmale aus der Weimarer Republik, ein Nazi-Gedenkstein aus einer SS-Siedlung in Zehlendorf, den Leninkopf und die Textstelen des Thälmanndenkmals an der Greifswalder Straße, die schon bald nach der Wende entfernt wurden: Sie ziert außer einem Zitat des in Buchenwald ermordeten Kommunisten auch eines von Erich Honecker.

„Stalin hätten wir natürlich genauso gezeigt“, sagt Theissen, „wir stellen die Denkmäler ja nicht neu auf einen Sockel, sondern wollen die Auseinandersetzung damit anregen.“ Allein, der Bronze-Stalin, der bis 1961 an der Stalinallee stand, wurde eingeschmolzen und, so heißt es, zu animalischen Skulpturen umgegossen, die heute im Tierpark Friedrichsfelde stehen. Nur ein Ohr erinnert noch an den schnauzbärtigen Georgier, und das wird schon im Café Sibylle auf der heutigen Karl-Marx-Allee ausgestellt.

Zauneidechse in Gefahr

In diesem Herbst soll „Enthüllt“ starten, eine Website gibt es schon, auch sind die meisten Objekte bereits eingetroffen. Lenin nicht. Mit Lenin gab es lange Probleme. Im vergangenen Jahr teilte die Stadtentwicklungsverwaltung mit, es ginge nicht, man wisse nicht genau, wo der Kopf liege, und das ganze Waldbegräbnis umzupflügen sei ja dann doch zu teuer. Andrea Theissen und ihre Kollegen konnten dieses Argument entkräften, aber dann traten die Grünen und die Piraten auf den Plan. Ihre Fraktionen brachten einen Antrag durch die BVV Treptow-Köpenick, der den Senat zu größtmöglicher Vorsicht bei der Bergung aufforderte: Auf dem Leninhügel gebe es eine bedeutende Population der streng geschützten Zauneidechse, die man nicht gefährden dürfe.

Inzwischen ist alles genehmigt. Das Bergungskonzept sieht vor, den Leninkopf erst im August zu heben. Vorher soll ein Reptilienexperte die Eidechsen fachgerecht vergrämen, also sachte von der Stelle vertreiben, wo die Erdarbeiten stattfinden werden. Dazu werden kleine Zäune und Lebendfallen aufgestellt. Die gefangenen Exemplare werden auf dem Gelände umgesiedelt, heißt es aus der Senatsverwaltung. Man werde den Tieren, die Sonne tanken müssen, um auf Betriebstemperatur zu kommen, einen angemessenen Ersatz bieten – am besten eine trockene Hanglage mit Südausrichtung. Echse gut, alles gut.

Und wo ist er jetzt? Der einzige markante Bereich in der bewaldeten Grube ist der Schießplatz, der laut einem kleinen, grünen Plastikschild von der „Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie“ betrieben wird. Klingt nicht besonders aktuell. Vor der Wende soll dies ein Übungsgelände der Volkspolizei gewesen sein, heute gehört es den Forsten. Ob hier Wildschweinschießen geübt wird? Sechs oder sieben rund 70 Meter lange Bahnen liegen zwischen parallel angeordneten Sandwällen, auf denen junge Kiefern wachsen. Ein bisschen Gerümpel liegt herum, abgebrannte Schwedenfeuer, auch ein überdachtes Rund gibt es, wo sich vielleicht die Waldarbeiter zum Wildschweinessen treffen, wer weiß.

Wälle mit jungen Kiefern

Über den Schießplatz gelange man zu dem Gelände, wo Lenins Einzelteile liegen, heißt es aus der Senatsverwaltung, exaktere Angaben will man dort nicht machen. Aber der hintere Bereich der Grube ist stark verwildert. Hier und da Sandflächen, es könnte überall sein. Jedenfalls überall, wo keine alten Bäume stehen. Hm, Moment mal.

Auch 1996 gab es Google noch nicht, aber heute findet die Suchmaschine Zeitungsartikel aus jenem Jahr. Einer zitiert den damaligen Forstamtsleiter, einen gewissen – Achtung, kein Scherz – Karl-Heinz Marx. Und was sagte Marx über Lenin? „Wir werden ihn in die Umgestaltung des alten Schießplatzes einbeziehen.“ Also zurück zu den Wällen mit den jungen Kiefern, die 15 oder 20 Jahre alt sein mögen. Der große Russe als Schutz vor verirrten Kugeln? Schaut da nicht sogar etwas Steinernes aus dem Sand? Nun ja, ein Betonbrocken. Das schafft noch keine Klarheit. Muss es auch nicht. An welcher Stelle Lenin seinen Kopf verloren hat, wissen ohnehin nur die Behörden. Und die Zauneidechse.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.