Syrien-Tagebuch, Folge 13: „Wir brauchen mehrere Revolutionen“

Am 20. April 2011 geht die Autorin ohne Wissen ihres Mannes auf eine Demonstration. Sie fragt sich, was alles passieren könnte.

Eine Beerdigung von getöteten Demonstranten in Damaskus am 21. Dezember 2011. Bild: Reuters

Hanan Laqud, 41, Mutter von fünf Kindern und Pädagogin, arbeitet für ein Netzwerk, das Kinder unterstützt. Sie kommt aus Daraja bei Damaskus.

Er wetterte so laut, dass ihn jeder auf der Straße hörte. Um neun Uhr abends haben Frauen nämlich – so die hiesigen Moralvorstellungen – zu Hause zu sein.

Ich war auf dem Weg zum Lichtermarsch, nachdem ich lange mit mir gerungen hatte, ob ich – ohne das Wissen meines Mannes – hingehen sollte.

Und dann kam mir dieser Dreißigjährige in die Quere, dem man schon an seiner Kluft ansah, welche Einstellung er hatte. Er unterhielt sich mit ein paar Männern. Worum es ging, konnte ich nicht hören. Ich schaute ihn an, überlegte. Kenne ich ihn? Hat er eine Frau? Hat er Töchter? Wie er sie wohl behandelt? Ob er sie liebt?

Der Satz „Frauen haben auf Demos nichts verloren!“, den er mir im Vorbeigehen entgegenschleuderte, hallte mir die ganze Zeit in den Ohren. Ich begriff, dass wir nicht eine, sondern mehrere Revolutionen machen müssen: Die gegen uns selbst und unsere Ängste und die gegen das gesellschaftliche Wertesystem.

Mein Mann war, was Frauen anbelangt, kein konservativer Fanatiker. Doch er hatte – genau wie alle hierzulande – Schreckensbilder im Kopf. Denn nach allem, was sich in den 80er Jahren und danach zugetragen hat und was sich heute zuträgt, wusste er genau, wozu das Regime fähig ist.

Zwiespalt zwischen Kopf und Herz

Ich erreichte die Demo kurz vor ihrem Ende. Ich bekam eine Kerze und eine kleine Fahne und hatte das Gefühl, noch nie einen so wertvollen Schatz in Händen gehalten zu haben. Keine zwanzig Frauen waren dort, aber etwa hundert Männer.

Ich dachte darüber nach, was mir passieren könnte: Verhaftung, Vergewaltigung, Tod.

Und wer würde dann meine Kinder trösten? Wer würde sie baden und ihnen frische Kleider anziehen?

Wer würde die Pubertät meiner Töchter begleiten und ihnen erklären, wie ein Mädchen sich zur Frau entwickelt? Wer würde …? Wer würde …? Wer würde …?

Bei all den Fragen vergaß ich, wo ich war.

„Wann geht die Demo morgen los?“, fragte Rahaf und riss mich aus den Gedanken. „Das steht noch nicht fest“, antwortete ich. „Wir wollen die Demos nicht zu dicht aufeinander folgen lassen. Denn nach der Aktion heute ist morgen mit einem erhöhten Aufgebot an Sicherheitskräfte zu rechnen.“

Während mein Kopf abwägte und zweifelte, war mein Herz voller Hoffnung und drängte zur Tat. Unmengen von Glückshormonen durchfluteten mich. Denn die Zeit der Freiheit war endlich gekommen.

Übersetzung aus dem Arabischen: Leila Chammaa

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