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Archiv-Artikel

Die, die nach unten schauen

Der Bezirk Reinickendorf hat das zweithöchste Haushaltseinkommen in Berlin. Allerdings nicht überall. An der Auguste-Viktoria-Allee geht es nur noch bergab. Darin sind sich die Anwohner einig

Aus den Eckkneipen, die verstaubt und aufgegeben wirken, dröhnt 70er-Jahre-Schlagermusik: „Hey Boss, ich brauch mehr Geld“Gefragt, wie sie Armut erkennen, verschränken die Pfarrer wie auf Kommando die Hände hinter dem Kopf, als wollten sie sich ergeben

von Waltraud Schwab (Text) und Bernd Hartung (Fotos)

Die Auguste-Viktoria-Allee in Reinickendorf kippt. „Dass es hier schlechter wird, das wissen doch alle“, sagt eine Rentnerin, die vor einem 40 Jahre alten und zehn Stockwerke hohen Haus steht. Sie wohnt dort. Ihre Tochter auch. Die sei jetzt 49 Jahre alt und bekomme keine Arbeit mehr. Ein Vierteljahrhundert war sie bei „Butter Beck“ Fachverkäuferin, bevor die Filiale geschlossen worden sei. 3 Euro die Stunde habe man ihr als Springerin anderswo geboten. Was das mit jemandem mache, wenn nichts mehr im Leben anerkannt werde. Kopfschüttelnd wendet sich die Rentnerin ab, weil der Bus kommt.

Die Aussiedlerin, die sich mit ihrer Freundin vor dem Edeka-Geschäft gegenüber unterhält, sagt das Gleiche. Die Leute hätten keine Arbeit. Von 350 Euro könne man doch nicht richtig leben. 13 Jahre wohne sie nun schon in der Auguste-Viktoria-Allee. Sie spricht ein Deutsch, das ihre alten pfälzischen Wurzeln offenlegt. „Mir warn a deitsche Kolchos.“ Bis sie 50 Jahre alt war, habe sie nur gearbeitet von morgens bis abends. Kühe gemolken, gemistet, Schweine gefüttert, fünf Kinder geboren, Weizen gesät, Heu gemacht, Kartoffeln geerntet. Dann kam sie nach Berlin.

Jetzt sehe sie die Auguste-Viktoria-Allee und dass die Leute mehr auf den Boden schauten als früher. Sie zeigt auf einen jungen Mann, der eilig den Platz neben dem Supermarkt und vor der Albert-Schweizer-Kirche, einem 70er-Jahre Zeltbau aus Beton, überquert. Auf seinem Handy läuft Musik. Er hält es sich ans Ohr, schaut nicht links, nicht rechts. Er schaut nach unten.

Die neue Unterschicht müsse an unspektakulären Orten gesucht werden, sagt Anke Petters. „Wenn Sie sehen wollen, was Armut mit den Leuten macht, gehen Sie in die Auguste-Viktoria-Allee“, erklärt die Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Reinickendorfer Bezirksverordnetenversammlung.

Der Nordberliner Bezirk wird nicht mit sozialem Elend in Verbindung gebracht. Im Gegenteil. Die CDU-Bürgermeisterin, Marlies Wanjura, lässt alle Welt gerne wissen, dass Reinickendorf prosperiere. Beim Nettoeinkommen der Privathaushalte habe der Bezirk mit im Durchschnitt 1.700 Euro einen Spitzenplatz in Berlin. Die Gegend um den Kurt-Schumacher-Platz, blende die Bürgermeisterin als Problemkiez aus, meint hingegen ihr politischer Gegner Peter Senftleben, der SPD-Jugendstadtrat. Dort aber liegt die Auguste-Viktoria-Allee.

Dass die deutsche Kaiserin ausgerechnet in dieser Gegend im Norden Berlins als Straßenname verewigt wird, ist mit den Unvereinbarkeiten einer Großstadt zu erklären. Immerhin entschädigt das Wort „Allee“ mit seinem angenehmen Wohlklang für die Abseitigkeit. Aber eine richtige Allee ist das nicht, eher eine mit viel Grün abgefederte Kulisse für einen Film, der in einer Kleinstadt spielt.

Am östlichen Ende der fast zwei Kilometer langen Straße drängeln sich ein paar Discounter: Blumenmarkt, Baumarkt, Kleidermarkt, Hundefuttermarkt. Kurz darauf kommt die Segenskirche mit ihrem hohen Turm in der verkehrsberuhigten Zone und beschwört dörfliches Flair herauf. Es hält nicht lange, bis es von Mietshäusern aller möglichen Baustile abgelöst wird: Berliner Altbau der Jahrhundertwende und Wohnungsbau aus den 20er-Jahren. Daneben stehen kastenförmige Häuser der Nachkriegszeit. Ihr Putz ist ockerfarben, oliv oder grau. Auch der soziale Wohnungsbau aus den 70er-Jahren passt sich ins kleinteilige Gefüge ein. Rund 20.000 Menschen leben hier im Kiez.

Zwischen den Gebäuden liegen sechs Kitas, drei Kirchen, eine Bücherei, ein Jugendzentrum, vier Schulen und immer wieder Grünanlagen und Spielplätze. Eine Flaniermeile ist die Allee allerdings nicht, manchmal nur stehen Frauen vor den Supermärkten und Kitas und warten. Aus den Eckkneipen, die verstaubt und aufgegeben wirken, dröhnt 70er-Jahre-Schlagermusik: „Hey Boss, ich brauch mehr Geld.“

Farbenfroh setzt sich lediglich der „Imbiss-König“ zur Wehr. Bei ihm gibt es ein halbes Hähnchen für 2,30 Euro, dazu „Premiere“ auf der Großleinwand. Hinter der Theke sitzt eine Frau und wartet. „Das spürt doch jeder, dass das hier bergab geht“, sagt sie. Am ersten des Monats sei der Laden voll, aber schon eine Woche später kämen nicht mehr viele. Ein Stammgast habe seit 1986 keinen Strom. „Nicht bügeln, nicht waschen, Radio nur mit Batterien, Licht nur mit Kerzen.“ Sie schüttelt den Kopf. Armut, ja darüber schrieben die Zeitungen jetzt. Sie lese sie nicht mehr. Dabei deutet sie auf die Bild-Zeitung, die auf dem Tresen liegt. „Gehört hier zum Service.“

Ihr Blick fällt auf die Kinder, die auf der angrenzenden Klixstraße spielen. Jeden Tag seien die mit ihrem Ball da. Niemand passe auf. „Irgendwann passiert was.“ Sie habe auch einen Enkel, aber wie man Kinder einfach sich selbst überlassen könne – sie schüttelt den Kopf. Manchmal kommen die Kleinen und holen sich ein Brot mit Ketchup für 20 Cent. Durch die Arbeitslosigkeit ginge was kaputt zwischen den Leuten. Sie glaubt, dass man eine Arbeit finden kann. „Man muss aber Abstriche machen.“

Da haben die drei 1-Euro-Jobber, die mit ihren Thermoskannen vor einer der Kirchen sitzen und Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen andere Erfahrungen. Dem einen ist der Rücken vom Steineschleppen kaputt gegangen. Über 50 ist er jetzt. „Ich krieg nichts mehr.“ Der andere ist über 40 und schwerbehindert. „Hatte mal ’nen Herzinfarkt.“ Der dritte ist Anfang 20 und ohne Chance auf einen Ausbildungsplatz. Die Leute sähen den Türken im Mercedes, meint der mit dem Herzinfarkt. Dann würden sie sagen: „Der hat ’nen Mercedes, und ich hab kein Auto. Die Ausländer kriegen alles, und ich bin der Depp.“

Vor der Max-Beckmann-Oberschule sitzen drei junge Frauen und rauchen. „Klar geht es hier bergab. Merken es die Zeitungen endlich?“, fragt eine der Schülerinnen, die in der Gegend wohnt. Nachts ginge sie nicht allein auf die Straße. „Da vorne an der Ecke ist vor einiger Zeit eine Türkin von ihrem Mann erstochen worden, weil sie sich von ihm trennen wollte.“ Sie selbst glaubt, dass sie in Berlin keine Zukunft hat. Sie macht Abitur, will aber nicht studieren. Zu teuer. Sie will eine Ausbildung machen. „Arzthelferin oder so. Die verlangen doch schon Abitur dafür.“ Gemeinsam mit den Freundinnen zieht sie davon.

„Das Profil der Straße ist gleich wie vor 20 Jahren“, sagt Eberhard Thon, der seit mehr als zwei Jahrzehnten Pfarrer der Segensgemeinde ist, aber die Menschen hätten sich geändert. „Sie identifizieren sich nicht mehr mit dem Kiez“, ergänzt sein Kollege Albrecht Winterhager. In sieben Jahren hat die evangelische Gemeinde 2.500 von über 9.000 Mitgliedern verloren. Viele durch Wegzug. Neu gekommen seien Ausländer. Russlanddeutsche und andere Nationalitäten. Viele arbeitslos.

Im Berliner Sozialstrukturatlas wurde die Gegend in die zweitschlechteste Kategorie eingestuft. In Reinickendorf sei der Auguste-Viktoria-Kiez das Sorgenkind, meint auch der Jugendstadtrat. Wie viele Menschen von Stütze leben, lässt sich in Zahlen derzeit jedoch nicht zuverlässig sagen, weil die Daten nun bei den Jobcentern zusammenlaufen. In den Kitas aber seien 70 Prozent Kinder nichtdeutscher Herkunft. Auf den Straßen haben die anderen Kulturen bisher kaum Spuren hinterlassen. Nur hin und wieder sind ein paar Wortfetzen auf Russisch oder Türkisch zu hören.

Gefragt, wie sie die Armut erkennen, nehmen die beiden Pfarrer der Segenskirche wie auf Kommando die Hände nach oben und verschränken sie hinter dem Kopf, als wollten sie sich ergeben. Man merke es an den Gesprächen bei Beerdigungen, Taufen und so, antworten sie. Die Wirklichkeit dränge sich mehr auf. Man müsse den Beruf des Geistlichen neu denken, sei mehr Sozialarbeiter als Seelsorger. „Konkret soll geholfen werden. Nicht im Übertragenen.“ Ab November wird in der Segenskirche deshalb eine Essensausgabe von „Laib und Seele“ eingerichtet. Einmal die Woche können sich Bedürftige eine Tüte mit Lebensmitteln abholen. „Es ist aufgefallen, dass viele Leute, deren Adresse unsere Postleitzahl hat, zu anderen Ausgabestellen gehen.“

Der Niedergang in der „Auguste“, wie sie liebevoll genannt wird, vollzieht sich im Verborgenen. Die Straße hat nichts Schreiiges: keine Graffiti, keine hundertfach überklebten Plakate, keine Baustellen. Nur „Zak“ hat jemand mit einem Edding auf die Rückenlehne einer Bank geschmiert.

Man spüre, dass „das Leben schlechter werde“, sagt eine weißhaarige, gut gekleidete Frau, die darauf Platz genommen hat. Wie? „Das Gefühl ist in mir drin“, sagt sie und holt aus ihrer Tasche eine Hand voll Bucheckern. „Nehmen Sie!“ In den Rehbergen habe sie sie gefunden. Sie schält eine und steckt sie sich in den Mund. „Im Krieg haben wir die gesammelt und sie in Kuchen gemacht anstatt Nüsse. Aber da war ich noch ein Kind.“