Ein Projekt wird zur Band

Heraus aus der Anstalt, hinein in das kreative Netzwerk: Den 18. Geburtstag begehen Station 17, der Zusammenschluss behinderter und nicht behinderter Musiker aus Hamburg, mit ihrem überraschenden neuen Album „Mikroprofessor“

Außergewöhnlich wird das Album „Mikroprofessor“ vor allem durch die Texte

VON THOMAS WINKLER

Projekt, das steht gemeinhin für das lockere Beisammensein kurzzeitig am selben Gegenstand Interessierter. Doch auch Projekte werden mitunter älter als erwartet. Station 17 ist nun sogar volljährig geworden. Seinen 18. Geburtstag begeht der Hamburger Zusammenschluss geistig behinderter und nicht behinderter Musiker mit dem neuen Album „Mikroprofessor“, dem Angriff auf die Tanzböden der Republik und der Feststellung, dass man eigentlich gar kein Projekt mehr ist. „Das“, sagt Kai Boysen, „ist halt eine Band.“

Boysen ist der einzige Fixpunkt in der Geschichte von Station 17. Er war Zivildienstleistender und Ideengeber, als 1988 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf begonnen wurde, die dort betreuten Behinderten an die Musik heranzuführen und sie mit Profi-Musikern zusammenzubringen. Es folgten Alben und Tourneen, Medieninteresse und Kontroversen. Boysen wurde vorgeworfen, sich auf Kosten der Behinderten profilieren zu wollen. Manche fanden, die behinderten Menschen würden vorgeführt wie in einer Freak-Show. Und andere wieder sahen keinen künstlerischen Wert, sondern nur eine klingende Aktion Sorgenkind.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Boysen ist nicht mehr als Musiker bei Station 17 beteiligt. Stattdessen leitet er nun Barner 16, ein in zwei Hinterhof-Stockwerken in Hamburg-Altona angesiedeltes Netzwerk. Organisiert und finanziert ist man wie eine herkömmliche Behindertenwerkstatt, nur dass die Mitarbeiter nicht den dort gemeinhin üblichen Tätigkeiten in der Aktenvernichtung oder Verpackung nachgehen, sondern mit der Produktion von Kunst beschäftigt sind: Vier verschiedene Bands üben und nehmen auf, darunter die mit Blinden besetzte Rockband Kunde König. Bei „Von der Rolle“ dreht man Videoclips und arbeitet an einem abendfüllenden Spielfilm, das Tanzprojekt probt im Atrium, die Theatergruppe ist seit 1995 aktiv und das Label 17rec. gerade gegründet worden. Im „Kongress der Planetenvereinigung“, einer „Science-Fiction-Lichtspiel-Operette“ finden verschiedene der bei Barner 16 angesiedelten Gruppen zusammen.

Aber „Aushängeschild und Motor des Ganzen“, so Boysen, sind immer noch Station 17. Mit dem vor bald vier Jahren erfolgten Auszug aus der Evangelischen Stiftung und der Gründung von Barner 16 hat sich das Projekt endgültig zu einer Band gewandelt. Es gibt ungefähr ein Dutzend Mitglieder und „keine Differenzierung mehr zwischen Musiker, Betreuer oder Behindertem“, sagt Boysen stolz. Auch die früher üblichen Eifersüchteleien zwischen den Musikern haben sich „total gelegt“. Vormals verlief die Konkurrenz ums Mikrofon und den Platz in der ersten Reihe bisweilen handgreiflich, heute ist der Umgang miteinander „sehr professionell geworden“.

Auch von der schon immer sehr interessierten Öffentlichkeit wird Station 17, hat der Organisator festgestellt, mittlerweile nicht mehr als Behindertenprojekt, sondern in erster Linie als Band wahrgenommen. Früher konnte es durchaus vorkommen, dass ein von gutmeinenden Sozialarbeitern dominiertes Publikum „jeden Pups“ beklatschte, nun aber, spätestens seit dem Album „Hitparade“ (2001), auf dem ältere Tracks von Prominenten wie Denyo, DJ Koze, Pole, Barbara Morgenstern oder Andreas Dorau remixt wurden, fühlt Boysen seine Station 17 angekommen im regulären Musikgeschäft. Bis dahin war man Lieblingskind des gutbürgerlichen Feuilletons, nun berichtet auch die Musikpresse. Nicht zu übersehen sei, so Boysen, dass es zu einer „Entkrampfung“ im Umgang gekommen sei.

Station 17 wird nicht mehr als Behindertenprojekt wahrgenommen

Aber nicht nur die Rezeption, auch die Band selbst hat nicht nur einige Besetzungswechsel, sondern auch eine dramatische musikalische Entwicklung durchlaufen. Von den wilden, mal an Can erinnernden, oftmals aber einfach allzu richtungslosen Improvisationen der Anfangsjahre hat man sich längst entfernt: „Mikroprofessor“ ist eine moderne Platte für den Dancefloor, auf der Beats blubbern und der Rhythmus jederzeit groovt. Das war auch möglich geworden, weil das Klischee, Behinderte hörten nur Schlager, Volksmusik und Billig-Techno, längst nicht mehr stimmt. Der Grund, so Boysen: Die Betreuung hat sich gewandelt. Heutzutage wohnen die Behinderten länger bei ihren Eltern, und wenn sie ausziehen, dann meist nicht mehr in Anstalten, sondern oft in Wohngemeinschaften. Auch die Evangelische Stiftung Alsterdorf ist in Auflösung begriffen, und die Musiker von Station 17 wohnen, zwar betreut, aber selbstständig, in der ganzen Stadt verteilt.

„Diese Generation von Musikern kommt aus Integrationsschulen, die sind ganz normal musikalisch sozialisiert worden und ihr Musikgeschmack ist nicht mehr gefiltert durch Wohngruppen“, sagt Boysen. Bisweilen ist es zwar „immer noch schwierig, rauszukriegen, was den Behinderten wirklich gefällt, aber was tanzbar ist, das ist immer gut angekommen“. Da lag es nahe, den bereits mit „Scheibe“ (1997) und „Bravo“ (1999) eingeschlagenen Weg weiterzugehen und auf die Elektronik zu setzen. Wenn es damals oft in Richtung Dub ging, hat sich auf „Mikroprofessor“ zu von den Produzenten Christian Fleck, Harre Kühnast und Nils Kacirek meist ziemlich dynamisch programmierten Dance-Beats verfestigt. Dass Kai Fischer, ehemals Songschreiber der Teenie-Band Echt, seinen Zivildienst während der Aufnahmen bei Barner 16 abgeleistet hat und Station 17 immer noch mit seiner Gitarre unterstützt, ist eine nette Anekdote, hat sich allerdings musikalisch nicht prägend ins Endprodukt eingegraben.

Außergewöhnlich wird „Mikroprofessor“, wenig überraschend, stattdessen vor allem durch die Texte. Die schreiben schließlich Künstler, von denen manche an Down-Syndrom oder Trisomie 21 erkrankt sind. Solche Reime hat man in einem mitternächtlichen Club bislang eher selten gehört. Eher sprechend als singend, manchmal stockend, aber stets geschickt in die klickernde Elektronik eingepasst, berichtet der erst kürzlich zu Station 17 gestoßene Paul Preisser in „Drogen sind schlecht für die Haut“ von den Versuchungen, denen auch ein Behinderter ausgesetzt ist. Birgit Hohnen, die bereits seit mehr als zehn Jahren dabei ist, philosophiert wieder: „Manchmal ist der Tag groß und manchmal klein, aber das kann man nicht voraussehen.“ Der Humor mag mitunter unfreiwillig sein, unwillkommen ist er nicht. Der Umgang hat sich entspannt. Station 17 ist erwachsen geworden.

Station 17: „Mikroprofessor“ (17rec./ Neuton). Live: 28. 10. Berlin, 3. 11. Hannover, 25. 11. Plattenlaase (Wendland)