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B-Boys über Gorki Park

Achtung! Sie verlassen den sowjetischen Sektor! Auch in Moskau boomt die Popkultur. Jelzin wirbt mit Tina Turner, und Gagarin thront als Schutzheiliger über einer sauberen Rave-Abfahrt  ■ Von Ulrich Gutmair und Benjamin Beck

Ohne die Metro wäre Moskau das größte Dorf der Welt. Anders gesagt: Moskau ist das Synonym für ein hocheffizientes öffentliches Transportsystem, das jeden Tag Millionen von Menschen von einer Plattenbausiedlung zur nächsten befördert. Kein Wunder, daß die Vorplätze der Metrostationen zu Zentren des neuen Kapitalismus geworden sind. Hier bessern Babuschkas ihre kaum vorhandene Rente mit Dienstleistungsangeboten auf, indem sie in den ehemals staatlichen Kaufhallen erworbene Grundnahrungsmittel gegen Aufpreis an gestreßte Großstädter weiterverkaufen.

Immer in Reichweite einer Metro sind auch die zahllosen Märkte zu finden, in denen vor allem westliche Sportswear und koreanische Unterhaltungselektronik erstanden werden können. An solchen Orten rudimentärer Marktwirtschaft manifestiert sich auch die hiesige Popkultur. Das ist kein Zufall, sind die Märkte doch die sozialen und ökonomischen Zentren des postsowjetischen Rußland, das öffentliche Räume im westlichen Sinn immer noch vermissen läßt. Das Leben findet nicht in Cafés, Bars oder auf den Straßen, sondern zum größten Teil in geschützten privaten Räumen statt. Um so mehr kann das, was sich als Popuniversum präsentiert, als Fenster in die Mechanik jugendlicher Wunschökonomien gelten – im Rahmen einer Gesellschaft, die ziemlich brutal in eine kapitalistische transformiert wird.

Disneyland des Postkommunismus

Vor der Metrostation WDNCh hämmern aus jeder dritten Bude die neuesten Hits über den Markt. Der ist jeden Tag gut besucht und wird vor allem samstags zur ersten Station einer Einkaufstour durch das ehemalige Ausstellungsareal der volkswirtschaftlichen Errungenschaften der Sowjetunion, einem kommunistischen Pendant zu Disneyland. Die Kids informieren sich über das Angebot an Kassetten, die das Medium Nummer eins für Pop in Rußland sind, und verwandeln die paar Quadratmeter vor der Bude mit der besten Musik auch schon mal für fünf Minuten in eine Freiluftdisco. Die Auswahl hinter den Scheiben der Holzboxen kann auch den kritischen Ansprüchen westlicher Touristen standhalten. Von Public Enemy über Digital Underground bis hin zu Busta Rhymes reicht die HipHop Sektion, die Technozone franst an den Rändern gar zu Underground Stars wie Goldie oder Atari Teenage Riot aus. Die Mehrzahl der jugendlichen Hörer schüttelt bei Modern Talking nur noch mitleidig den Kopf und besteht immer öfter auf Hits aus lokaler Produktion.

Die Stars dieser neuen russischen Welle sind unbestritten Ivanuschki International: Keine Imbißbude ohne den Sound des „dreieinigen Sexsymbols der Zukunft“, wie sie die Iswestija genannt hat. Ivanuschki sind die Take That des postsowjetischen Imperiums, Stars für die ganze Familie. Die findet sich dann auch pünktlich um 18 Uhr im einen Katzensprung von der WDNCh entfernten Kosmoskino ein. Bei den Hits „Himbeeren auf den Lippen“ und „Wolken wie Menschen“ toben vor allem Hausfrauen und junge Mädchen, die erklärte Zielgruppe der russischen Popindustrie. Dem Charme dieses tatsächlich internationalen Popmodells, das House mit mehrstimmig vorgetragenen russischen Texten und Melodien kombiniert, können sich aber auch die weniger zahlreichen männlichen Begleiter nicht völlig entziehen. Nach jedem Stück entern Fans die Bühne, niemand bleibt ungeküßt, nur mit dem Tanzen tun sich die Ivanuschkis noch etwas schwer.

10.000 Dollar soll die Kreation eines Popstars kosten, meldete die Iswestija im Sommer. Damit kann man sich Produzenten, Videoclips und Airtime kaufen, und dank gutausgebildeter Musiker brauchen die Ergebnisse den Vergleich mit Westpop nicht zu scheuen. Wenn das Geld nicht reicht, wartet schließlich an jeder Ecke ein Sponsor. Dschimmy Dschi und Mister Boss, die hiesigen Vertreter multikulturellen Eurotechnos, werben deshalb am Ende ihrer Platte für eine russische Gin-Marke.

Guterh. Dissidenten billig abzugeben!

Die ernsthaftere Spezies von Popkonsumenten zieht es am Wochenende auf den Musikmarkt Garbunowka. Auch hier dominieren lokale Größen, darunter das ganze Spektrum mehr oder weniger dissidenter Popmusik der 80er. Daß der Underground von früher jetzt auf den neuen Märkten gelandet ist, ist aus westlicher Perspektive nicht gerade erstaunlich. Während im Westen die zyklischen Verschiebungen zwischen Underground und Mainstream schon seit Generationen zu beobachten sind, hat dieser Prozeß in der postsowjetischen Welt aber eine ganz andere Bedeutung. Underground war hier nie eine Produktionsweise, die sich gegen Übernahmebestrebungen seitens der Unterhaltungsindustrie wehren mußte, sondern ein von Zensur und Repression bedrohtes Netzwerk neben der offiziellen Kultur.

Die Kassetten von Graschdanskaja Oborona zum Beispiel, die jetzt überall verkauft werden, waren früher nur unter einigem Aufwand als die soundsovielte Kopie einer Kopie einer nachts illegal in einem staatlichen Studio produzierten Aufnahme zu bekommen. Der Überfluß an ehemals dissidentem Material scheint jetzt – ganz der Logik des Marktes folgend – die Nachfrage zu drücken. Um überhaupt noch für Aufmerksamkeit zu sorgen, gehen manche Ex- Dissidenten inzwischen dazu über, mit Solidaritätsbekundungen an das Lager der Nationalkommunisten Position gegen das neue Establishment zu beziehen – und versuchen damit gleichzeitig, die traditionellen Formen von Symbolpolitik zu bewahren, die inoffizieller Pop früher transportierte.

Wenn politisches Engagement sich so offensichtlich darstellt, dann heißt das in Rußland, daß es vor allem auf dem Level eines Images existiert und somit rein virtuell ist. Sergej Guriew, Herausgeber des Fanzines Kontrkultura, erklärt so den Weg in eine Sackgasse symbolischer Akte als letzte verbliebene strategische Option des alten Popundergrounds.

Beweg deinen Hintern! Glaub an die Zukunft!

Die Besucher des Garbunowka- Markts zeigen sich von solchen poptheoretischen Spitzfindigkeiten unbeeindruckt und widmen sich lieber Schaschlik und Wodka. Der Weg von hier zur nächsten Metro dient gleichzeitig als Informationsbörse, alle Wände sind mit Plakaten zugepflastert. Dwa Samoljota, Petersburger Stars aus der Perestroika-Ära, werden für den Abend im Aquatoria angekündigt, Karten müssen telefonisch vorbestellt werden. Das ist offensichtlich eine der Strategien gegen die Mafia, die ohnehin bereits alle Clubs mit internationalem Standard kontrolliert.

Die dort üblichen Eintrittspreise von 30 bis 50 Mark filtern eine eher unangenehme Partycrowd aus Touristen, Neuen Russen und Mafiosi heraus, für die DJs aus dem Westen eingeflogen werden. Das Aquatoria dagegen ist nirgends in den Stadtführern verzeichnet, daher nur schwer in einem unüberschaubaren Konglomerat aus 60er-Jahre-Plattenbauten zu finden, nimmt dafür aber für normale Kids erträgliche 8 Mark Eintritt. Wie an allen Orten, die nächtlichem Amüsement dienen, erwarten mit energischer Freundlichkeit und Walkie-talkie ausgestattete Männer im Anzug den Besucher am Eingang. Daß plötzlich Menschen aus dem Westen Einlaß begehren, bringt die Türsteher kurzzeitig aus der Fassung, dann öffnet sich die Schleuse zum ehemaligen Kulturhaus des Viertels.

Dwa Samoljota, die Ex-Dissidenten, haben einiges an Glamour verloren und versuchen sich in einer Nische zwischen Weltmusik und Ska einzurichten, ohne damit noch jemanden beeindrucken zu können. Den Frauen und Männern um die 30 mit Punkfrisuren und John-Lennon-Brillen, die wohl wegen der Kollegen aus Petersburg ins Aquatoria gekommen sind, ist das harte Leben auf den Barrikaden der Poprevolte von den Gesichtern abzulesen. Die 15- bis 20jährigen, die den Club ansonsten mehrheitlich bevölkern, haben solche Dissidenz nie kennengelernt, scheinen sie auch jetzt nicht zu bemerken und tanzen vor und nach dem Konzert zu englischen und russischen Technostücken, die auf den ersten Blick alle dieselbe Botschaft zu haben scheinen: Beweg deinen Hintern! Believe in the Future!

Tschernobyl als Katastrophenspiel

Der Hit, nicht nur an diesem Abend, ist „Kosmonaut“ von radiotrance, ein stampfender Technotrack, der mit einer Micky- Maus-Stimme verkündet: „Wenn du es wirklich willst, kannst du in den Kosmos fliegen!“ Radiotrance operieren geschickt zwischen Technoekstase, Drogentransgression und den für die Mehrheit ihrer Hörer wohl schon mythischen Erfahrungen einer Sowjetkindheit in Form von Kinderliedsamples. Mit „Allzeit bereit!“ wird das Motto der Pioniere für diese Blaupause von Techno Made in Moscow zitiert, einer Gebrauchsanweisung, die folgerichtig den Helden von Generationen, Kosmonaut Jurij Gagarin, zum Schutzheiligen einer sauberen Rave-Abfahrt macht.

Trotzdem sind radiotrance weit davon entfernt, den Soundtrack zu eskapistischem Drogenkonsum und Sowjetnostalgie zu liefern. Es geht neben dem obligatorischen Spaßhaben um Erlebnisse auf Acid („Wow! Regen! Das ist allerechtester Regen!“) und ökologisches Bewußtsein: Die Erde braucht dich! In „Gefährliche Zone“ wird Tschernobyl schließlich als Level eines globalen Katastrophen-Videogames gelesen: „Es bleiben Ihnen fünf Minuten, die gefährliche Zone zu verlassen! Fünf – vier – drei – zwo – eins! Sie haben's nicht geschafft!!“

Die Kinder des Aquatoria haben die postsowjetische Zone bereits in Richtung Cyberpunk, Drum 'n' Bass und HipHop verlassen, schließlich können die Moskauer DJs inzwischen auch auf Vinylimporte aus dem Westen zurückgreifen. Nur im Chill-out- Areal des Clubs scheinen sich alte Dissidenz und Konsumkritik zu verbünden. Dort hat ein Künstler auf Fotos Adolf Hitler und Marylin Monroe nachgestellt und das Logo eines auf den russischen Markt drängenden französischen Parfumherstellers mit Bildern aus dem Gulag kombiniert.

Ein Gespenst geht um in Rußland...

Währenddessen haben Werbekolonnen die Stadt mit Tina-Turner- Plakaten beklebt, die als Ersatz für Lenin am Tag der nicht mehr stattfindenden Revolutionsfeierlichkeiten im Kreml aufspielen soll. Daß ein junger Faschist das Konterfei der Turner mit einem krakeligen „Kill Niggers“ beschmiert hat, ist dabei nur als Fußnote des auch in Rußland grassierenden Rassismus zu verstehen. Wobei mit den „Schwarzen“ als Feindbild üblicherweise Tschetschenen und andere Kaukasier gemeint sind, denen man nachsagt, die Kerntruppe mafioser Schattenwirtschaft zu sein.

Daß Boris Jelzin nicht nur Tina Turner eingeladen, sondern bereits im Wahlkampf auf die Unterstützung populärer Bands zurückgegriffen hat, dürfte das Feindbild der antiwestlichen jungen Rechten nur verfestigt haben. Tatsächlich aber ist dieses Bündnis zwischen Pop und Politik nicht unbedingt als Proklamation der Westimporte Kapitalismus und Demokratie zu verstehen, sondern wohl eher als Ergebnis einer fundamentalen Indifferenz, die Kulturindustrie und Machtpolitik gemein haben. Dieser Indifferenz gebe „letztendlich nur der Wille zum Erfolg eine Richtung“, meint der Moskauer Intellektuelle Viktor Misiano.

Was dem marxistisch geschulten Leiter des privaten Zentrums für zeitgenössische Kunst die Indifferenz, ist der konservativen Iswestija Symptom für einen beispiellosen Verfall der russischen Kultur. Ein Gespenst geht um in Rußland: die Popkultur, die sich als Totengräberin der Kultur bereitwillig anbietet. In einem der kulturell am meisten entwickelten Staaten – wie wir aus irgendeinem Grund bis heute glauben – hat ein gewaltfreier kultureller Umsturz stattgefunden. Seriöse, glaubhafte und „gute“ Literatur, ernsthafte Musik, professionelle Theateraufführungen und durchdachte Filme finden sich jetzt an der Peripherie des gesellschaftlichen Bewußtseins wieder. Der Rest ist Showbusiness.

Manchesterkultur à la Moskowskaja

Tatsächlich ist die Unterhaltungsindustrie einer der wenigen boomenden Bereiche, während die Industrieproduktion sich weiterhin in einem desolaten Zustand befindet. In der letzten Saison belief sich der Umsatz im Popmusiksektor auf 100 Millionen Dollar. Einen vergleichbaren Stellenwert hat Pop vermutlich nur in England. Während sich dort aber in den letzten Jahrzehnten eine hochdifferenzierte Kulturindustrie entwickelt hat, befindet sich Pop in Rußland noch im Stadium des Manchesterkapitalismus. Dementsprechend sind russische Stars üblicherweise weniger Erfinder ausgeklügelter Identitätsmodelle als vielmehr Lohnarbeiter.

Alexej Sawelew, der schon in den 70ern populäre Popbands gemanagt hat, vergleicht die Stars von heute denn auch mit Prostituierten: „Wenn du nachts in Moskau ausgehst, kannst du sehen, wie viele Prostituierte auf den Straßen sind und welche Qualität sie haben. Wenn der Lebensstandard höher wird, verbessert sich die Qualität der Prostituierten und der Unterhaltungsmusik ...“ Das Showbusiness in Rußland beruht auf denselben Regeln wie jede kommerzielle Struktur: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Alles, was heute auf der Bühne ist, ist ein Spiegel der Zuschauer- und Hörerbedürfnisse und folglich des kulturellen Niveaus der Bevölkerung.

Kugeln sind schneller als Gedanken

Demgegenüber scheint HipHop einer der wenigen Orte zu sein, an dem das tägliche Leben reflektiert werden kann und will. Während in Westeuropa kalifornischer Gangsta Rap eigentlich nur als Lifestylekomponente Sinn macht, haben Moskauer Jugendliche kein Problem, dessen Texte als Beschreibungen der eigenen Realität zu lesen. Für junge Männer aus den zahlreichen, im Schlamm versinkenden Satellitenstädten bietet sich die Mafia als einzige Alternative zu unterbezahlten Jobs an. Ein Heer jugendlicher „Raketjori“, die diesen Namen ihren Baseballschlägern verdanken, treibt allwöchentlich in nahezu jedem Geschäft der Stadt die Schutzgelder ein. Daß die Wahl zwischen Armut und Mafia immer in ein Verlustgeschäft mündet, ist dabei allen klar. Aus den Texten der russischen Gangsta Rapper Tsche-Rap spricht vor allem Resignation: „Kugeln fliegen schneller als Gedanken / Unser Leben heißt: Es fliegen Kugeln / Unser Leben besteht aus Scheißgedanken / Daran, daß du nichts ändern kannst / Der neue Tag wird nichts dran ändern / Hier ist meine schwarze Pistole / Laß mich in Ruhe, vielleicht bist du als nächster dran.“

Für Ein-Mann-Unternehmen wie das von Alexej Savelev, die heute russische Popformate konstruieren, sind die B-Boys vom Gorki-Park im Augenblick wohl noch zu kontrovers. Das könnte sich ändern, wenn die Kids vom anderen Ende der russischen Zweiklassengesellschaft der Ivanuschkis müde sind und Rußlands dienstältester Privatsender demnächst seinen Musikkanal eröffnet.

Auch der Clip für den ersten Gangsta Rapper wird 1.500 Dollar kosten. Das hat der Markt bereits geregelt.

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