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Dorrit und ihre Schwester

Helden der Marktwirtschaft: Tausche Heftchen gegen Heftchen – in Paninkas „Roman-Shop“ in Steglitz wird, ganz im Sinne von Karl Marx, das Gemeinwesen immer wieder neu begründet  ■ Von Kolja Mensing

Für Karl Marx begann alles Übel mit dem Warentausch. Allein die „naturwüchsigen Völker“ lebten im Paradies der Dinge, die noch keine Waren sind, befand der Analytiker im ersten Teil des „Kapital“. Die restliche Menschheit jedoch sei längst in einem gleichsam zwangläufigen Prozeß aus dem Garten Eden in die Ödnis der Warenwelt vertrieben worden. „Dinge sind an und für sich dem Menschen äußerlich und daher veräußerlich“, hegelte Marx und sah auch die Menschen zu Eigentümern werden und sich damit als Fremde gegenüberstehen.

Das Ding ward Ware, und nimmermehr trat man dem Nachbarn, Freund oder Verwandten in gemeinschaftlicher Unschuld entgegen. Der erste Gedanke war nun, wie man dem Gegenüber das eine oder andere Gut aus seinem Sortiment abluchsen könne. Ein jeder wurde des anderen Wolf, in den apodiktischen Worten Marx': „Der Warenaustausch beginnt, wo die Gemeinwesen enden.“

Das Ende der Geldwirtschaft

Andererseits: In Frau Paninkas kleinem Berliner Geschäft in der Schützenstraße in Steglitz würde sich Karl Marx vermutlich gar nicht einmal unwohl fühlen. Obwohl allerorten die Geldwirtschaft regiert, haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einigen deutschen Großstädten unzeitgemäße Enklaven des Tauschhandels gebildet, von denen wenige auch heute noch erhalten sind. In winzigen Ladenlokalen tragen Menschen Dinge, um andere Dinge dafür wieder mitzunehmen. Eines dieser winzigen Ladenlokale ist Frau Paninkas Etablissement. Es mißt kaum mehr als zwanzig Quadratmeter Grundfläche.

Allerdings ist der Tauschkorridor recht eng. Frau Paninka betreibt einen „Roman-Shop“, in dem nur eines zu finden ist: Heftchen. Auch der Kurs liegt fest, gehandelt wird nicht. Wer drei Folgen „Perry Rhodan“ oder „Landarzt Dr. Fabian“ bringt, darf ein neues Heft mitnehmen. „Der Tauschwert erscheint als etwas Zufälliges und rein Relatives“, wußte Marx, und Frau Paninka erinnert sich, daß früher eins zu zwei getauscht wurde. Aber so ganz naturwüchsig geht es auch hier nicht zu. Zu groß ist der Druck der spätkapitalistisch organisierten Umwelt. So kursiert in den Heftchenläden, die zunächst vor allem in den billigen Kellerlokalen der Großstädte untergebracht sind, selbstverständlich auch Geld. Neue, ungelesene Romane können zum fast einheitlichen Preis von zwei Mark zwanzig erstanden werden, gebrauchte Hefte kosten nur achtzig Pfennig und werden – Marx kannte die notwendigen Berechnungsformeln – für zwei Groschen angekauft. Doch der Heftchendurchsatz bei den einzelnen Lesern ist groß, ein zweites Mal wird keines der Fledderbücher gelesen. Wer einen Stapel Courths-Mahler-Romane in der Wohnzimmerecke gesammelt hat, trägt ihn zu Frau Paninka – und tauscht. Zum Beispiel die ausgelesene „Dorrit in Gefahr“-Ausgabe gegen deren Fortsetzung „Dorrit und ihre Schwester“, um zu erfahren, ob es der Heldin, „die ihre Großtante Rose Steinert zur Alleinerbin ihres riesigen Vermögens bestimmt hat“, gelingen wird, „sich aus dem Netz zu befreien, das ihr Vater in so schändlicher Weise über sie geworfen hat“.

Frau Paninkas „Roman-Shop“ begleitet Biographien. Zum Beispiel die des jungen Mannes, der als achtjähriger Schüler Mickymäuse bei ihr tauschte, der dann einige Jahre nicht mehr auftauchte und vor kurzem wiederkam: nicht aus Nostalgie, sondern als reifer, dem Disney-Alter entwachsener Kunde. Er ist jetzt bei der Bundeswehr und versorgt sich für die langweilige Zeit in der Kaserne mit getauschtem Lesestoff bei Frau Paninka. Da gibt es die Rentner, die nach „Landser“-Heften fragen, die Hausfrauen, die Ärzteromane verschlingen, und die kleinen Jungen, die sich vor dem Regal mit den Horrorgeschichten im Stil von „Geisterjäger John Sinclair“ und ähnlichem herumdrücken.

Frau Paninka erzählt von ihrem Kundenstamm wie von einer Gemeinschaft, die sich nicht nur die bildungsbürgerliche Hochkultur, sondern auch gegen die verlokkenden Reize der neunziger Jahre verschworen hat. Sie beginnt ein wenig zu schwärmen, und in ihrer Darstellung wird der Romanheftetausch zur Alternative: Heftchen statt Videocassetten, Fernsehprogramm und Computerspielen.

Marx hätte sie damit widerlegt. Das Gemeinwesen ist vielleicht längst an seinem Ende angekommen, darf jedoch letzte Blüten treiben: im Schatten der Tauschgeschäfte, die die Kunden im „Roman-Shop“ tätigen.

Roman-Shop, Schützenstraße 16, Steglitz

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