: Konzept für das innere Wachstum Stuttgarts
■ Stuttgarts Baubürgermeister Hahn verteidigt die Pläne: Die Stadt wird vollendet, der unterirdische Durchgangsbahnhof an das europäische ICE-Netz angeschlossen
Das Stuttgarter Stadtzentrum liegt in einer flachen, nahezu kreisrunden Talmulde, die zum östlich davon verlaufenden Neckar hin geöffnet ist. Durch diese Öffnung drängen sich Bahngleise, eine Bundesstraße und ein etwa fünf Kilometer langer Landschaftspark. Nur absolute Eisenbahnfreaks können über den schmerzlichen Eingriff in die Stadtlandschaft hinwegsehen, den der eiserne Gleisteppich darstellt. Stuttgart hat in mehreren Gartenschauen versucht, die Parkanlagen mit den angrenzenden Stadtquartieren vollständig zu verknüpfen. Dies war wegen der trennenden Bahnanlagen jedoch nicht möglich.
Durch das Angebot der Deutschen Bahn AG 1994, die Gleise unter die Erde zu legen, eröffnete sich die einmalige Entwicklungsperspektive, auf einer etwa 100 Hektar großen Fläche das innere Wachstum der Stadt, die Vernetzung der Parkflächen mit der Stadt und eine vielfältige Neuorientierung des Stadtgrundrisses zu ermöglichen. Die monofunktionale Bahnfläche kann in ein lebendiges Stadtquartier umgewandelt werden. Trennende Barrieren werden beseitigt und die Parkflächen erweitert. Die Stadt wird ergänzt, repariert und erneuert. Stuttgart erhält zudem lebenswichtige neue Impulse. Das Außenwachstum wird gedämpft, und Freiflächen an den Stadträndern können geschont werden.
Trotz der großen Umstrukturierungspläne war von Beginn an klar, daß der neue Hauptbahnhof weiter ins Zentrum der Stadt gehört: Hier wurden in den vergangenen 25 Jahren alle öffentlichen Verkehrsmittel konzentriert. Vom alten Hauptbahnhof hat man direkten Anschluß an alle S-Bahnlinien und auch an fast alle Stadtbahnlinien.
Der zentrale Standort des bestehenden Bahnhofs hat sich wegen seiner exzellenten Lage gegenüber den untersuchten Alternativstandorten außerhalb des Zentrums in Kornwestheim, am Rosensteinpark, in Bad Cannstatt und in Untertürkheim durchgesetzt. Der Hauptbahnhof soll direkt mit dem Flughafen verbunden werden und von dort aus künftig in acht Minuten erreichbar sein.
Als erster Schritt für das Projekt „Stuttgart 21“ wurde noch 1994 eine städtebauliche Machbarkeitsstudie erarbeitet. Das Stadtplanungsamt Stuttgart legte eine Rahmenkonzeption vor, die von der Annahme ausging, daß etwa 11.000 Einwohner und 24.000 Arbeitsplätze auf dem etwa 100 Hektar großen Planungsgebiet untergebracht werden können.
Daß diese Vorstellungen nicht auf illusionären Schätzungen beruhten, bestätigten sechs Planungsbüros aus Dortmund, Stuttgart, Hamburg und Wien, die beauftragt waren, städtebauliche Konzepte für dieses Gebiet zu entwickeln. Die Entwürfe kamen zu ähnlichen Einwohner- und Arbeitsplatzzahlen. In besonderem Maße überzeugten drei Planungen, die eine Größenordnung von etwa 1,3 Millionen Quadratmeter Bruttogeschoßfläche vorsahen.
Um das städtebauliche Programm weiter zu differenzieren und alternative städtebauliche Konzepte zu erhalten, wurde im Frühjahr 1996 von der Stadt, dem Land und der Bahn AG ein „kooperatives Gutachterverfahren“ durchgeführt, zu dem zehn Planungsbüros aus Berlin, Darmstadt, Hamburg, Kopenhagen, Paris, Rotterdam und Stuttgart eingeladen waren. Darunter waren so renommierte Architekten wie Renzo Piano oder Meinhard von Gerkan.
Im Juli 1996 lagen die Ergebnisse vor. Die Gutachterkommission hob zunächst zwei grundsätzlich unterschiedliche, aber in sich überzeugende Gesamtkonzeptionen als besonders wichtig für die weitere städtebauliche Diskussion hervor. Zum einen war dies die Arbeit des Büros Trojan, Trojan + Neu (Darmstadt) eine unter voller Inanspruchnahme der Bauflächen entwickelte, stadträumlich vielfältige und überzeugende Gesamtlösung von Blöcken, Türmen und Freiflächen. Zum anderen zeigte die Arbeit des Architekturbüros Jodry (Paris) eine äußerst konsequente Erweiterung der Parkanlagen in überzeugender Gestaltung. Diese Arbeit konzentriert die Bebauung vor allem im Abschnitt unmittelbar nördlich des Bahnhofs mit sehr hoher Dichte und städtebaulich etwas zu stereotyper Ausprägung, stellt aber so den neuen Bahnhof in den Mittelpunkt der neuen Konzeption.
Die Jury regte an, den Entwurf von Trojan, Trojan + Neu zur Grundlage für die Bürgerbeteiligung und die Ausarbeitung der Rahmenplanung zu machen, da er sowohl in städtebaulicher als auch in landschaftsplanerischer Hinsicht besonders dafür geeignet sei. Außerdem sprach die Gutachterkommission die Empfehlung aus, für den Hauptbahnhof und sein städtebauliches Umfeld einen offenen europaweiten Realisierungswettbewerb auszuschreiben. Auf der Grundlage des Trojan- Entwurfs wurde vom Stadtplanungsamt ein Rahmenplan-Entwurf erarbeitet, der vom Gemeinderat für die Bürgerbeteiligung freigegeben wurde.
Den mit dem Projekt „Stuttgart 21“ zusammenhängenden Umweltfragen, vor allem das Stadtklima und die Stuttgarter Mineralwasservorkommen, wurden in dem Planungsprozeß hohe Priorität eingeräumt. Die Berücksichtigung der wichtigsten Klimaströme, insbesondere an den Stuttgarter Hangwinden, war wesentliches Kriterium bei der Bewertung der Arbeiten. Offen bleibt aber nach wie die Frage, wie der Eingriff in den Druckwasserspiegel des Mineralwassers bewertet werden muß. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand, der sich unter anderem auf umfangreiche Bohrungsergebnisse stützt, kann davon ausgegangen werden, daß die Bahngleise tiefergelegt werden können und daß das gesamte Projekt Stuttgart 21 keine größeren Risiken mit sich bringt als andere in Stuttgart durchgeführte Baumaßnahmen.
Bei den für das Gesamtprojekt veranschlagten Investitionen von 4,9 Milliarden Mark ist zu bedenken, daß die Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs und seiner Zulaufstrecken (Leankonzept) bereits über 2,8 Milliarden Mark verschlingen würde. Die 2,1 Milliarden Mark, die bei dem gegenwärtigen Planungskonzept zusätzlich finanziert werden müssen, sind in den nächsten 25 Jahren durch Grundstücksverkäufe freiwerdender Bahnflächen zu erlangen. Die Gesamtkosten von 4,9 Milliarden beziehen sich auf den gesamten Bahnknoten Stuttgart zwischen Feuerbach und Wendlingen am Neckar. Das Finanzierungsrisiko der Grundstücksvermarktung trägt die Deutsche Bahn AG. Die Stadt trägt das überschaubare Risiko von Baukostenerhöhungen bis zu 57 Millionen Mark, wobei die Abrechnung erst im Jahr 2022 erfolgt.
Daß die Stadt Stuttgart dem Gebäude des neuen Hauptbahnhofs als Blickfang und Landmarke im Stadtgrundriß besondere Aufmerksamkeit zuwendet, soll nicht nur der Bauwettbewerb beweisen, sondern auch der Umgang mit dem alten Bonatz-Bahnhof, der Teil des Ensembles bleiben wird. Der lange Riegel und der Turm sollen grundsätzlich erhalten und nur so weit verändert werden, als dem denkmalpflegerische Belange nicht entgegenstehen.
Heute liegen die Bahnsteige des alten Kopfbahnhofs eine Ebene höher als die Stuttgarter Haupteinkaufsmeile Königstraße und sind von dort nur über Treppen und Rolltreppen zu erreichen. Lediglich an der Nordseite des Bahnhofs liegen die Bahnsteige ebenerdig zur Stadt. Beim zukünftigen Durchgangsbahnhof liegen die Bahnsteige der nach oben offenen Bahnsteighalle rund 7,5 Meter tiefer als die Königstraße. Eine ausreichende Zahl von Rolltreppen und behindertengerechten Aufzügen ist vorgesehen. Darüber hinaus erleichtert die Umwandlung des Hauptbahnhofs in einen Durchgangsbahnhof in der Stadtmitte den Anschluß an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz. In der Diskussion wird immer übersehen, daß durch „Stuttgart 21“ zugleich Regionalverkehr und Nahverkehr nachhaltig verbessert werden. Es haben also alle Bewohner der Region etwas davon.
Matthias Hahn (SPD) ist Baubürgermeister in Stuttgart
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