: Nie mehr Rock auf dieser Bühne
Musik für den Augenblick: Der Anorak, Berlins Ort für feine musikalische Improvisationen, schließt seine Pforten – das ehemals besetzte Haus in Prenzlauer Berg wird demnächst von Grund auf saniert ■ Von Noel Rademacher
Was benötigt man am dringendsten, wenn der Nieselregen einem naßkalt zwischen die Schulterblätter kriecht? Einen Anorak, wetterfest und warm.
Das ist wohl der Grund, warum sich der kleine Wohnzimmerklub in der Dunckerstraße 14 „Anorak“ nannte. Drei Jahre lang war er die bevorzugte Wärmestube für Liebhaber der improvisierten Musik, ein Kammermusiksaal für Hausbesetzer mit schlecht ziehendem Kohleofen. Doch in diesem Dezember schließt der Laden, weil das ehemals besetzte Haus im Bezirk Mitte von Grund auf saniert wird.
Zurück liegen drei Jahre mit über 100 Konzerten, alle mit dem Anspruch, die musikalische Avantgarde zu präsentieren. Nicht alles wurde freilich diesem Anspruch gerecht, und oft wurden die Nerven der Zuhörer überstrapaziert – aber immer gab es etwas Ungewöhnliches zu hören. Zu Ende sind damit auch drei Jahre Selbstausbeutung der Veranstalter, denen es gelang, auf dreißig Quadratmetern Raum eine kleine „Knitting Factory“ für Berlin schaffen.
Das allererste Konzert 1994 wurde von der Hausbesetzer- Punkband „Hansi und die fetten Öttels“ bestritten. Danach schwor sich der kleine Mitarbeiterstamm, bestehend aus Volker, Conrad und Fenella: Auf dieser Bühne darf nie wieder Rock stattfinden. Schon allein deshalb, weil sich die eigenen Wohnräume genau über der Bühne befanden. Was als Abneigung gegen das allzu Grobschlächtige begann, entwickelte sich zum eigenen Profil. „Wir wollten Musik haben, die man sonst nirgendwo in Berlin zu hören bekommt“, sagt Volker.
So wurde der Anorak zunächst zur Bühne von skurrilen Außenseitern der lokalen Bandszene, wie „Blei war sein Lohn“, „Ich schwitze nie“ und „Das zuckende Vakuum“. Der „Durchbruch“ kam für den Anorak 1995 mit dem Umzug in den gemütlicheren Seitenflügel des Hauses, als man die „Echtzeit“-Reihe einführte. Von nun an war der Sonntag reserviert für reinimprovisierte Musik. Die hauseigene Philosophie: Auf der Bühne sollten die Kompositionen der Musiker erst im selben Moment entstehen, an dem sie auch das Trommelfell des Zuhörers in Schwingungen versetzen. Man blieb dem Prinzip „Musik für den Augenblick“ so treu, daß man es ablehnte, Konzertmitschnitte zu machen. Weil sich aber nicht jeder Zuhörer daran hielt, kursieren heute in Japan Mitschnitte, aufgenommen „live at the Anorak“. In Berlin bis zum Schluß nur Insidern ein Begriff, genoß der Anorak international Respekt: Chris Cuttler gab sich die Ehre, Guy Bettini und Jon Rose spielten hier.
Schönste Konzerte, unvergeßliche Augenblicke? Da war zum Beispiel jener Tag, an dem die Schweizer Botschaft Sturm klingelte, weil sie händeringend nach einem Auftrittsort für ein Schlagzeugensemble aus der Schweiz suchte. Die kamen mit zwei Kleinlastern und wollten gleich wieder umkehren als sie die Miniaturbühne erblickten. Also baute man die Schlagzeug-Sets im Zuschauerraum auf und bat das Publikum, auf der Bühne Platz zu nehmen, wo sich dann pelzbeladene Botschafterfrauen zu Hausbesetzer-Punks gesellten. Oder jener denkwürdige Abend mit Saiukho Namchylak. Mitten im Auftritt der launischen Diva platzte im Stockwerk darüber ein Wasserrohr, so daß es auf der Bühne zu regnen anfing.
Wird es nach der Sanierung einen neuen Anorak geben? „Das wird uns keiner abnehmen, wenn wir im luxussanierten Haus das gleiche Programm machen“, erklärt Conrad. Denn von dem Tag an, als die Hausbesetzer am Runden Tisch mit der Wohnungsbaugesellschaft die Mietfreiheit für die Räume des Anorak aushandelten, herrschte ein anti-kommerzieller Konsens: Die Künstler machten Abstriche bei Technik und Gage, dafür konnten sie mit einem unvoreingenommenen und aufmerksamen Publikum rechnen. Die übrigen Hausbewohner fühlten sich mitverantwortlich für den Klub und klebten nachts Plakate.
Doch dieses Kozept kann nach der Sanierung nicht mehr aufgehen. Der Abschied vom Anorak ist auch ein Abschied eines alternativen Lebenskonzepts, das nur im Ostberlin der Nachwende gedeien konnte. Trotzdem sind die „Sachzwänge“ auch ein willkommener Anlaß, mal wieder etwas Neues zu machen. Ohne eine Spur von Wehmut erklären die drei: „Es wäre viel trauriger, wenn wir immer so weiter machen würden, nur weil wir nicht aufhören können.“
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