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Das Unbehagen am Stau

Zur Semantik nationaler Symbole. Die Phantasie vom ruhigen Fließen hat die Deutschen schon immer fasziniert. Der Stau der Reformen ist die westdeutsche Antwort auf den ostdeutschen Gefühlsstau. Die Bundeswehr am Deich und ihre Beziehung zum Reformstau  ■ Von Harry Nutt

Rühe, der immer ein wenig den Eindruck macht, als könne er seine Gesichtszüge nur durch konzentrierte Kraftaufwendung vor dem Entgleiten bewahren, hatte einen guten Sommer. Je höher die Flut im Oderbruch stieg, desto mehr Soldaten konnte er in die vom Hochwasser bedrohte Region befehligen. Die Truppe zeichnete sich aus durch Begrenzungsarbeit. Nicht wenige wollten daraufhin das Fließen der Spendengelder in Richtung Ernst-Thälmann-Siedlung und die Sandsäcke stapelnden Soldaten als Zeichen einer neuen Stufe im Vereinigungsprozeß verstanden wissen. Soldaten aus Ost und West bewältigten erstmals gemeinsam eine nationale Krise. Das war er doch, der Ruck, der durch den Volkskörper hindurch gehen sollte. Zu dumm, daß die Bundeswehr nur wenige Wochen später durch etwas in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregte, was fortan mit der Metapher vom braunen Sumpf gekennzeichnet wurde. Die Begrenzungsarbeit, mit der sich die Bundeswehr eben noch ausgezeichnet hatte, drohte nun gründlich zu mißlingen.

Dabei war das Bild von den Soldaten an den Deichen von einiger symbolischer Kraft. Bei der Hervorhebung des guten Tuns klang unterschwellig die Bemerkung durch, daß die Armee ihren angestammten Ort eigentlich woanders hat. Am Deich jedenfalls befand sich der Soldat im Ausnahmezustand. Die Medien belobigten es mit zahlreichen Beiträgen, in denen die Soldaten über ihre körperlichen Anstrengungen unter Verzicht auf jeglichen Waffengebrauch berichten durften. Über die Bundeswehr sprechen heißt, sich in das Feld nationaler Symbolik zu begeben.

„Das Massensymbol der Deutschen“, schreibt Elias Canetti, „war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald.“ In seinem Buch „Masse und Macht“ unterscheidet Canetti die Massensymbole der Nationen. Das Symbol der Deutschen ist der Wald, der im Gegensatz zum tropischen Wald als Wald der gemäßigten Zone eine starke Ähnlichkeit mit dem Heer aufweist. Der einzelne Baum, so Canetti, ist größer als der einzelne Mensch und wächst ins Reckenhafte. Seine Standhaftigkeit hat viel von derselben Tugend des Kriegers.

Die Symbolik des Wasserbaus

Der Deich dagegen, zu dem sich die Bundeswehrsoldaten im Sommer begeben hatten, ist in Canettis Symbolordnung eindeutig das Erkennungszeichen der Holländer. Diese hatten das Land, das sie bewohnen, dem Meer erst abzugewinnen. Der Deich bildet die Grundlage des niederländischen Daseins. Wird er beschädigt, ist das Land gefährdet. Gegenüber Feinden konnte der Deich aber auch zur Waffe werden. Sie zu öffnen, wurde zur militärischen Strategie im Kampf gegen Angreifer vom Festland. Wenn die Holländer, so Canetti, ihre Deiche vor den Feinden zerstören, „geht ihre Kraft auf die Männer über, die sie nach dem Krieg wieder errichten werden“. Die gegenwärtige Imagekrise der Bundeswehr macht deutlich, daß es der Deich in Deutschland nie zum Nationalsymbol gebracht hat. Auf Rühes guten Sommer folgte ein katastrophaler Winter. Überhaupt scheint eher Gefahr im Verzuge, wenn im politischen Diskurs von Wasserbautechniken die Rede ist. Reformstau lauert überall.

Das Verb „stauen“, das jüngst in verschiedenen Wendungen eine vielbeachtete semantische Karriere gemacht hat, wurde im Sinne von „den Lauf des Wassers hemmen“ erst im 17. Jahrhundert aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche übernommen. Während aber die Niederländer vom Stauen als ihrer ureigensten Sache sprechen können, weil sie es darin zu einer aus der Not geborenen, beachtlichen Fertigkeit gebracht haben, erscheint der Stau den Deutschen zuallererst als Bedrohung. Davon zeugt Theodor Storms „Schimmelreiter“ in einer Art friesischen „Dialektik der Aufklärung“ nicht weniger als die täglichen Verkehrshinweise. Einen Stau führt man nicht herbei, er widerfährt einem als Bewegungshemmung im Auto oder jetzt als Reformstau bei der Bewältigung der staatlichen Neupositionierung im Prozeß der Globalisierung. Wenn gelegentlich vom Stau auf der Autobahn als neuem Nationalsymbol der Deutschen die Rede ist, so ist allerdings nicht gleich davon auszugehen, daß sich die Deutschen der Symbolik der Niederländer bemächtigt haben. Auf der Autobahn kommt man der eigenen Tradition immer noch am nächsten. Die Autobahn, die Hitler keineswegs erfunden hat, deren Ausbau er dann aber rasch vorantrieb, brachte ihn nur schneller zurück in den geliebten Wald. Eigenen Bekundungen zufolge hat es Hitler immer als Geschenk empfunden, daß man im Spessart „zwei Stunden und mehr fahren kann, ohne einen Menschen zu sehen“. Dafür sah er viele Bäume, die sich vor seinen geistigen Augen zur vorbeiziehenden Armee formierten.

Als Metapher ist der Stau nicht erst mit dem Reformstau ins Zentrum politischer Semantik gerückt. Schon bald nach der Wende von 1989 schrieb der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz sein Buch über den „Gefühlsstau“ der Ostdeutschen. Die Repressionen der Staatsmacht der DDR, so die These von Maaz, haben bei ihren Bewohnern eine Blockierung der Emotionalität zur Folge gehabt, die sie buchstäblich flach atmen ließ. Der DDR-Sozialismus hatte ein Land von Gehemmten zurückgelassen. „Wir waren ein gefühlsunterdrücktes Volk“, schreibt Maaz, „Wir blieben auf unseren Gefühlen sitzen, der Gefühlsstau beherrschte und bestimmte unser ganzes Leben. Wir waren emotional so eingemauert, wie die Berliner Mauer unser Land abgeschlossen hatte.“ Das Lied zum Gefühlsstau hatte Wolf Biermann schon Anfang der 70er Jahre gesungen. In „Warte nicht auf bessere Zeiten“ wurden Fäuste in der Manteltasche geballt, derweil man inständig auf das Abfließen der drohenden Gewässer hoffte. „Doch im Frühjahr, wenn das Eis taut“, sang Biermann, „fängt es erst richtig an.“

Der Gefühlsstau als Ergußphantasie

Wo metaphorisch vom Stau die Rede ist, werden Ergußphantasien verhandelt. Das Öffnen der Schleusen, der Fall der Berliner Mauer, den Maaz als kathartischen Durchbruch des Unbewußten beschreibt und zu dem sich die Menschen weinend und lachend in die Arme fielen, wurde bald darauf als Überschwemmung erlebt. „Deutschland, eilig Vaterland“. Die Wiedervereinigung wurde so ohne große Umschweife als ejaculatio praecox beschrieben. Die gestauten Gefühle vermochten nicht langsam und in geordneten Bahnen abzufließen. Die Verlockungen des Konsumismus, so Maaz, erzeugten nun das Gegenteil des Staus, einen unwiderstehlichen Rausch. Es ging einfach alles viel zu schnell. Eine wirkliche Vereinigung fand nicht statt. Maaz' Psychogramm der DDR ist so gesehen auch ein Phantasieren über das ruhige Fließen der Körpersäfte. Tatsächlich wurde der Gefühlsstau nach der Wende zu einer weitgehend anerkannten Beschreibungsformel. Der Name trug nicht wenig zur nachträglichen Selbstberuhigung bei.

Inzwischen scheinen auch die Westdeutschen flacher zu atmen. Die Staubegriffe beginnen sich allmählich zu stauen. Das Handelsblatt steuerte Anfang der Woche auch noch den Diskussionsstau bei. Der Redefluß im Zeichen herrschaftsfreier Rede, der die Gesellschaft weiterbringt, so der Verdacht, ist gestört.

Fluten, Ströme und ozeanische Gefühle

Waren es im Osten die Gefühle, die nach der Wende nicht ordentlich flossen, so hat sich der Stau nun auf die gesellschaftlichen Funktionssysteme erstreckt. Das gilt zuallererst erst für das Geld, das sich nicht mehr ungehemmt seinen Weg durch die Wirtschaft bahnen kann. Wenn vom Stau die Rede ist, geht es eigentlich um die mächtigen Phantasien des Strömens, Flutens und Fließens, das Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“ untersucht und materialreich beschrieben hat. Der soldatische Mann ist mit dem Errichten von Dämmen befaßt, aber seine ganze Obsession gilt dem Dammbruch. „Die Niederlage Deutschlands im Krieg“, schreibt Theweleit, „und die revolutionäre Veränderung der Verhältnisse in und um Deutschland unter dem Bild der Flut aufzufassen, scheint also möglich zu werden durch die Vorstellung von äußeren Einbrüchen und inneren Dammbrüchen, als deren Folge freigesetzte Triebe, die ihr von der wilhelminischen Gesellschaft vorgeschriebenes, erzwungenes Bett verlassen, frei fließend über die Ufer treten.“

Im Wort vom Reformstau drückt sich die Angst vorm drohenden sozialen Wandel aus. Nichts will mehr richtig abfließen in der Bundesrepublik, in der über viele Jahre alles ansteigen konnte. Vielleicht drängen deshalb wirtschaftliche Niederlagen und politische Veränderungen zum übermächtigen Bild des Staus. Wirtschaft, Politik und Bundeswehr waren zuletzt intensiv mit den ozeanischen Gefühlen beschäftigt, deren Existenz Freud in seinem Aufsatz „Vom Unbehagen in der Kultur“ mit einiger Skepsis betrachtet hat. Statt des endlosen Fließens konzentrierte sich sein Blick auf die Begrenzung des Ichs. Das macht hierzulande, Rühes Mundwinkel verraten es, mitunter große Schwierigkeiten.

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