Staatsbürger in Uniform auf dem Rückzug

Führende Friedensforschungsinstitute beklagen im Friedensgutachten 1998 „irritierende Defizite“ im demokratischen Selbstverständnis der Bundeswehr und fordern eine Reduzierung der Truppenstärke  ■ Aus Berlin Dieter Rulff

Die zeitliche Abfolge war nicht geplant, doch passend. Einen Tag, nachdem Bundesverteidigungsminister Volker Rühe mit einem öffentlichen Gelöbnis in Berlin 300 Rekruten vereidigt hatte, stellten gestern Vertreter der führenden Friedensforschungsinstitute „irritierende Defizite“ im demokratischen Selbstverständnis der Bundeswehr fest.

Das betreffe vor allem das Verfassungsverständnis, das Traditionsbild, das Erziehungs- und Ausbildungssystem sowie das Verhältnis zur Wehrmacht, sagte der Leiter der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Bruno Schoch, anläßlich der Veröffentlichung des Friedensgutachtens 1998. Nicht einzelne Fälle von Rechtsradikalismus, sondern die seit 15 Jahren andauernde Zurückdrängung der Leitbilder vom „Bürger in Uniform“ und der „Inneren Führung“ seien eine Gefahr für die Bundeswehr.

Auch die „Zurschaustellung verstaubten Traditionsgutes“ wie öffentliche Gelöbnisse oder der Große Zapfenstreich knüpften an einen Militarismus an, der die zivilen Leitbilder zerstöre, sagte er. Es vermehre sich die Tendenz, das Soldatsein jenseits der verfassungsrechtlichen Grundlagen als einen „Beruf sui generis“, einen Beruf aus sich heraus, zu betrachten.

In ihrem Gutachten fordern die Institute eine drastische Verkleinerung der Bundeswehr, die derzeit eine Stärke von 340.000 Soldaten aufweist. Wie Reinhard Mutz, Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg, erläuterte, gebe es für die meisten Staaten Europas keinen Verteidigungsfall mehr. Das Mitwirken an stabilen Sicherheitsverhältnissen brauche wesentlich kleinere und anders ausgerüstete Sicherheitskräfte in Europa. Mutz sprach sich für eine multinationale Strukturierung der Streitkräfte aus. Damit könnte die Möglichkeit des nationalen Mißbrauchs dieser Machtinstrumente eingeschränkt werden.

In dem Gutachten wird auch die Frage erörtet, welchen Beitrag militärische Gewalt zur Konfliktbewältigung leisten kann. Zwar könne man, so Mutz, selbstverständlich nicht mit Waffen Frieden schaffen, doch müsse man so präzise wie möglich die Bedingungen formulieren, unter denen militärische Mittel als Voraussetzungen einer Konfliktregelung genutzt werden können.

Der Bericht kritisiert die Haltung der Nato-Staaten bei den Verhandlungen mit Rußland über die Konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE). Diese drohten an den Meinungsverschiedenheiten im westlichen Bündnis zu scheitern. Den USA wird vorgehalten, eine Verhandlungsposition einzunehmen, die der militärischen Flexibilität der Nato den Vorrang einräumt. Danach sollen in jedem Mitgliedsland der Nato – auch in den neuen Mitgliedsstaaten – gleichzeitig bis zu zwei Divisionen stationiert werden können.

Nach Auffassung der Bundesregierung ist eine temporäre Stationierung in dieser Größenordnung nur als Ausnahme zu akzeptieren. Sie dürfe allerdings nicht in allen Staaten gleichzeitig stattfinden. Dieser Disput ist nach Ansicht der Friedensforscher Ausdruck einer grundlegenden Kontroverse über die künftige Rolle der Nato. Diese wird zwischen den drei Polen Verteidigung des Bündnisgebietes, militärische Dienstleistung für UN und OSZE sowie weltweite Interventionsfähigkeit ausgetragen.