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Keiner wohnt mehr in der „Villa der Täter“

Seit zwei 16jährige den Feinkosthändler „Onkel Willi“ ermordet haben, sitzt in Hamburg die gesamte Jugendpolitik auf der Anklagebank – und manche glauben, die Verantwortlichen längst ausgemacht zu haben  ■ Aus Hamburg Elke Spanner

In der Stadt trägt sie neuerdings den Namen „Villa der Täter“. Ein einzelnes Haus steht in Hamburg sinnbildlich für die wachsende Jugendgewalt, seit vorige Woche der Lebensmittelhändler Willi Dabelstein in seinem Feinkostgeschäft von zwei Jungen ermordet worden war. Die beiden wohnten in einer betreuten Jugendeinrichtung im Stadtteil Tonndorf – hinter unvergitterten Fenstern, obwohl sie in ihrem 16jährigen Leben bereits einiges auf dem Kerbholz hatten. Hätte Hamburg geschlossene Heime, und hätten die beiden darin gelebt, hallt es seither durch die Hansestadt, wäre „Onkel Willi“ noch am Leben. Mit den beiden Tätern sitzt nun die gesamte Hamburger Jugendpolitik auf der Anklagebank.

Der 16jährige Christian und der gleichaltrige Patrick hatten sich erst drei Tage vor der Tat kennengelernt. Am Freitag vor dem gemeinsamen Mord waren beide aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Nachdem Christian am Montag morgen beim Spaziergang mit seiner 15jährigen Freundin den Feinkostladen entdeckt hatte, kauften die Jungen Strumpfmasken und Messer, gingen in der Mittagspause in den Laden, nahmen die Kasse und stachen zu. Beide haben die Tat gestanden.

Ihr Lebenslauf zeugt von beträchtlicher krimineller Energie. Statt die Schulbank zu drücken, haben sie ihr Leben mit Diebstählen, Autoaufbrüchen, Schlägereien und Raubüberfällen verbracht. Dennoch hatte das Jugendgericht sie in der Woche vor der Tat von weiterer Untersuchungshaft verschont, da diese bei Jugendlichen nur im Ausnahmefall verhängt werden darf. Die RichterInnen, die über die Freiheit von Patrick und Christian entscheiden mußten, hatten die beiden noch nicht aufgegeben. Sie hatten sie aus der U-Haft in die Jugendvilla entlassen. Sie ist die einzige Einrichtung dieser Art in Hamburg – dorthin kommt nur, wer schwere Straftaten begangen hat und für den die Alternative bis zum Ende eines Prozesses das Untersuchungsgefängnis wäre. Hamburg, so sagt es das Gesetz, muß eine solche Einrichtung bereitstellen. In Tonndorf wird es sie indes künftig nicht mehr geben.

Seit sie von den NachbarInnen als „Villa der Täter“ tituliert wurde, zogen die restlichen drei dort lebenden Jungen weg. Das Haus, so Leiterin Christiane Kluge vom Landesverband Erziehung und Berufsbildung (LEB), soll künftig anders genutzt werden. „Die Jugendlichen können ihre Chancen dort nicht mehr wahren“, begründet Kluge die Entscheidung. „Wer dort lebt, ist ab jetzt stigmatisiert.“

In der Tat haben die AnwohnerInnen mit dem Finger auf die Villa gezeigt. Zwar weichen sie nun, wo das Haus leersteht, einen Schritt zurück. „Wir wollten nicht allen Jugendlichen dort unterstellen, Mörder zu sein“, sagt eine Nachbarin. Noch vor wenigen Tagen hatten die TonndorferInnen damit allerdings weniger Probleme. Der „Verein für Tonndorf“ initiierte für den gestrigen Abend eine Menschenkette zum Gedenken an „Onkel Willi“ – ursprünglich von dessen Feinkostladen „bewußt zur Villa der Mörder“. Denn jetzt müsse „Schluß sein mit der Sozialträumerei“, hieß es im Aufruf, und endlich ein „wirksamer Schutz für uns Bürger geschaffen werden“. Inzwischen jedoch, freut sich Sprecher Horst Naruga, habe der Protest einen ersten Erfolg gezeitigt: „Die öffentliche Diskussion ist bereits so weit.“ Auf die Villa als Endpunkt der Menschenkette wurde darum verzichtet. In der Tat ist die Diskussion um Jugendkriminalität seither weitgehend auf die Frage reduziert, ob in Hamburg wieder geschlossene Erziehungsanstalten eingerichtet werden sollen. Die CDU, so prahlt etwa deren BÜrgerschaftsabgeordneter Klaus-Peter Hesse, habe diesen „Stein der Weisheit“ schon vor Jahren entdeckt. Auch bisherige Skeptiker fallen in den Chor mit ein. Selbst der Abgeordnete Hans-Peter de Lorent von der Grün-Alternativen Liste erklärte vorige Woche, die Gesellschaft müsse „vor lebenden Zeit- und Gewaltbomben geschützt werden“. Der Hamburger Senat prüft inzwischen mögliche Konsequenzen aus dem Mord. Jugendsenatorin Rosemarie Raab (SPD) erwägt, die Betreuung in Jugendwohnheimen zu intensivieren. Und Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit plädiert für die Installierung eines „Frühwarnsystems“: Schnappt die Polizei einen Jugendlichen bei der Tat oder streunend nachts auf der Straße, sollen FamilienrichterInnen, PädagogInnen und die Eltern zur „Erziehungskonferenz“ zusammengetrommelt werden – und zwar schon, bevor die Frage einer Heimeinweisung ansteht.

Während also über die Konsequenzen noch gestritten wird, glauben manche, die Verantwortlichen für den Mord längst ausgemacht zu haben: Ein Hamburger Rechtsanwalt erstattete Strafanzeige gegen die JugendrichterInnen, die Patrick und Christian aus der U-Haft entlassen hatten. Der Vorwurf: Totschlag, zumindest fahrlässige Tötung und Rechtsbeugung.

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