: Straßburger Papiertiger
■ Das Europaparlament konnte sich gestern nicht zu einem Mißtrauensvotum gegen die EU-Kommission entschließen. Eine Chance für mehr Selbständigkeit ist damit verpaßt.
Kaum hat der Präsident der EU-Kommission geniest, schon kriegt das ganze Parlament Schnupfen. Das ist der Eindruck, der am Ende einer hektischen Straßburger Sitzungswoche in der Öffentlichkeit haften bleiben wird.
Das Ergebnis der gestrigen Abstimmungen entbehrt jeder politischen Logik: Ursprünglich richtete sich der Unmut der Parlamentarier hauptsächlich gegen die beiden in Affären verwickelten Kommissare Cresson und Marin. Nur weil Kommissionspräsident Santer sich nicht von ihnen distanzierte, geriet er mit in den Strudel.
Am Ende verlangten aber nur 178 Abgeordnete, weniger als ein Drittel des Parlaments, den Rücktritt der beiden schwarzen Schafe. Dafür bekam die Kommission als Ganzes einen kräftigen Denkzettel. Dabei hatten es die meisten Parlamentarier eigentlich vermeiden wollen, die Kommission für das Fehlverhalten einzelner Mitglieder abzustrafen.
Das Hin und Her der vergangenen Tage ist für die Wähler in Europa kaum mehr nachvollziehbar: Zunächst hatten die sozialdemokratischen Abgeordneten einen Mißtrauensantrag gegen die Kommission eingebracht, dem sie selber aber gar nicht zustimmen wollten. Auf diesem Umweg sollte das Vertrauen zwischen Kommission und Parlament wiederhergestellt werden. Grüne und Fraktionslose schoben einen „echten“ Mißtrauensantrag hinterher, dem sich plötzlich auch die deutsche Gruppe der Sozialisten anschloß.
Am Morgen vor der Abstimmung machte der deutsche SPD- Abgeordnete Samland dann wieder einen Rückzieher: Er stufte nun die Möglichkeit des Parlaments, die Kommission abzusetzen, als politisch bedeutungslos ein. Schließlich bliebe sie kommissarisch weiterhin im Amt. Und ihre Amtszeit sei am Jahresende ja ohnehin vorbei.
Jacques Santers Drohung zeigte also Wirkung. Am Montag hatte er im Plenum noch versucht, in einer Mischung aus Selbstgefälligkeit und Reformbereitschaft die Abgeordneten auf seine Seite zu ziehen. Als das nicht fruchtete, kündigte er seinen Rücktritt für den Fall an, daß sie bei ihrer harten Haltung blieben. Sollte sich eine Mehrheit abzeichnen, die die Entlassung von Marin und Cresson verlangt, werde er seinen Hut nehmen.
Verkehrte Welt: Am Ende bekamen viele kritische Abgeordnete genau in dem Augenblick kalte Füße, als Santer das plante, was sie mit ihrem Mißtrauensvotum ja auch hatten erreichen wollen – seinen Rücktritt.
Kurz vor der entscheidenden Abstimmung lobte Wilfried Martens, der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, den Kommissionspräsidenten für seine Integrität und Glaubwürdigkeit. Dabei hatte er noch am Montag entschlossene Reformen und „null Toleranz“ bei Betrügereien gefordert. Andere Redner blieben bei ihrer harten Haltung. Patrick Cox, der Vorsitzende der Liberalen, kündigte an, die meisten Mitglieder seiner Fraktion seien weiterhin zum Mißtrauensantrag entschlossen. Grünen-Vorsitzende Magda Aelvoet meinte, das Parlament würde sich selbst das Mißtrauen aussprechen, wenn es jetzt einen Rückzieher machte. Das sah die schweigende Mehrheit offenbar anders. Sie lehnte zunächst die Entschließungsanträge ab, in denen Cresson und Marin zum Rücktritt aufgefordert wurden.
Trotz dieses für ihn günstigen Zwischenergebnisses wurde die Miene des Kommissionspräsidenten kurz vor der entscheidenden Abstimmung zum Mißtrauensantrag immer besorgter. Während Cresson die flammenden Erklärungen der Antragsbefürworter mit ironischem Gesichtsausdruck verfolgte, schien Santer zu überlegen, ob er vielleicht doch zu hoch gepokert hatte. Dann aber zerplatzte die Luftblase, die Palastrevolution war beendet: Mit 293 zu 232 Stimmen scheiterte der Mißtrauensantrag.
Noch am Montag hatten viele Abgeordnete gefragt, warum die Kommission immer erst dann zu Konzessionen bereit sei, wenn ihr das Wasser bis zum Hals steht. Konsequenzen haben sie aus dieser Erkenntnis nicht gezogen. Im Gegenteil: Eine Mehrheit hat nun dafür gesorgt, daß die Kommission bis zum Ende ihrer Amtszeit unbehelligt weiterwursteln kann. Für ein weiteres Mißtrauensvotum dürfte das zersplitterte und unglaubwürdig gewordene Parlament kaum die Kraft aufbringen.
Am 13. Juni wird in Europa gewählt. Es bleibt ein Rätsel, wieso die Abgeordneten alles daran setzten, ihre eigene Wirkungslosigkeit zu demonstrieren. Sie hätten die Krise nutzen können, um neues Selbstbewußtsein zu zeigen und in die Rolle hineinzuwachsen, die der Amsterdamer Vertrag dem Parlament künftig zuerkennt. Statt dessen siegte die Angst vor der eigenen Courage.
Verloren hat einer, von dem heute schon kaum mehr die Rede ist: Der Beamte van Buitenen, der Michael Kohlhaas der Euro-Verwaltung. Er hatte so wenig Vertrauen in die kommissionsinternen Kontrollmechanismen, daß er vertrauliche Dossiers über Betrug und Vetternwirtschaft an das Parlament weitergab. Wie sich jetzt zeigt, hat er aufs falsche Pferd gesetzt. Daniela Weingärtner
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