piwik no script img

Operation „Ruhe bewahren“ in der Türkei

■ Die Parlamentswahlen am Sonntag werden vom Kosovo-Krieg überschattet. Die regierenden Sozialdemokraten und Islamisten liegen jetzt etwa gleichauf

Istanbul (taz) – Vergangener Sonntag, 21 Uhr. Die Nachrichtenagenturen meldeten ein Attentat an einer Straßensperre in der Nähe der südtürkischen Stadt Adana. Drei Polizisten und ein Zivilist starben. Das Besondere jedoch war: die Bombe wurde ferngezündet. Bisher schickte die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) immer SelbstmordattentäterInnen vor. Die Auseinandersetzung hat nun womöglich eine neue militärische Brisanz bekommen. Doch in den Nachrichtensendungen Stunden später wird der Anschlag gar nicht erwähnt. Auch die Zeitungen am folgenden Tag widmen sich anderen Themen. Kurz vor den Parlaments- und Kommunalwahlen am kommenden Sonntag soll es der PKK nicht gelingen, die Bevölkerung in Angst und Hysterie zu versetzen. Selbst drei Anschläge auf Gouverneure allein in der letzten Woche, wurden erstaunlich knapp weggesteckt.

Bei der Operation „Ruhe bewahren“ hilft auch der Krieg im Kosovo. Der Nato-Einsatz auf dem Balkan eint die türkische Nation, und die Schreckensbilder der Flüchtlingstrecks lassen die eigenen Probleme wieder in einem milderen Licht erscheinen. Das bekommt allerdings auch Ministerpräsident Bülent Ecevit zu spüren. In den ersten Wochen nach der Verhaftung Öcalans in Nairobi gingen die Umfragewerte für Ecevit raketengleich in die Höhe. Statt 14 Prozent der Stimmen bei den Wahlen 1995 schienen ihm jetzt 25 Prozent so gut wie sicher. Da die Stimmungstester gleichzeitig Verluste der islamistischen Tugendpartei (Fazilet) prognostizierten und Ecevits potentiellen Koalitionspartner Mesut Yilmaz von der Mutterlandspartei (Anap) mit rund 18 Prozent gewichteten, schien sich erstmals seit Anfang des Jahrzehnts wieder eine stabile Regierung in der Türkei abzuzeichnen. Die Militärs, die Wirtschaft und die Botschafter der westlichen Staaten waren begeistert. Endlich Licht am Ende des Tunnels. Eine Annäherung an die EU rückte wieder in greifbare Nähe und auf längere Sicht vielleicht auch eine Befriedung des mehrheitlich von Kurden bewohnten Südostens.

Jetzt hat sich das Blatt gewendet. Der Traum einer durch Wahlen stabilisierten Türkei ist schon wieder verflogen. Der Krieg im Kosovo hat die Heldentaten Ecevits in der Öcalan-Affäre verblassen lassen, seine Umfragewerte sinken und die der Fazilet-Partei steigen. Wer von beiden am Sonntag vorne liegen wird, ist wieder völlig unklar. Erschwerend kommt noch hinzu, daß die rechtsextreme MHP (Partei der Nationlistischen Bewegung) und die schon abgeschlagen geglaubte linke Konkurrenz von Ecevit, die CHP, nun doch gute Chancen haben, die 10-Prozent-Hürde, die die türkische Verfassung vor den Einzug ins Parlament setzt, zu überspringen. Dann wären mit Tansu Çillers „Partei des Rechten Weges“ (DYP) fünf Formationen im Parlament vertreten und eine Zwei-Parteien-Koalition endgültig gestorben.

Die Kommentatoren malen bereits jetzt die Schrecken endloser Koalitionsverhandlungen und fortgesetzter Instabilität an die Wand. Die Ungewißheit wird verstärkt durch die laufenden Verbotsverfahren gegen die Fazilet und die prokurdische Hadep, die zwar die 10 Prozent nicht schaffen wird, bei den gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen im überwiegend kurdisch besiedelten Osten aber viele Bürgermeisterposten gewinnen wird. Womöglich werden die beiden Parteien, die zusammen die Mehrheit der türkischen Kommunen regieren werden, in einigen Monaten verboten. Kommt es tatsächlich nach den Wahlen zu einem fortgesetzten politischen Durcheinander, wird es wohl noch einen prominenten Verlierer geben: Abdullah Öcalan. Der Prozeß gegen den PKK-Chef soll am 30. April beginnen. Ein Urteil wird bereits Ende Mai erwartet. Steht dann eine stabile Ecevit-Regierung, kann Öcalan sich noch Hoffnungen machen, daß das sichere Todesurteil gegen ihn nicht vollstreckt wird. Todesurteile müssen in der Türkei durch eine Mehrheit im Parlament bestätigt werden. Ecevit ist ein Gegner der Todesstrafe und weiß darüber hinaus natürlich, daß es der Türkei außenpolitisch schadet, wenn Öcalan gehängt wird. Wird das Parlament durch eine stabile Regierung kontrolliert, bestehen deshalb Chancen, daß auch das Todesurteil gegen Apo – wie alle anderen Todesurteile, die seit 1984 von einem Gericht verhängt wurden – nicht vollstreckt wird. Bei andauernder Instabilität wird der Fall Öcalan jedoch unweigerlich auch in das innenpolitische Parteiengerangel hineingezogen. Da kann es leicht passieren, daß eine Gruppe Abgeordneter einen Initiativantrag stellt und ganz schnell eine Mehrheit für die Forderung bekommt: „Hängt den Babymörder.“ Jürgen Gottschlich

Kommentar Seite 12

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen