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Gelöste Zungen

■ „Jenseits des Krieges“: Besucher der Wehrmachtsausstellung (22.15 Uhr, Arte)

Als im vergangenen Jahr der Kriegsfilm „Der Soldat James Ryan“ in den US-Kinos lief, mußten mancherorts Beratungstellen und Sorgentelefone eingerichtet werden. Der Film, der die Landung einer US-Einheit am 6. Juni 1944 in der Normandie nachstellt, hatte die traumatischen Erfahrungen vieler Veteranen hervorgespült. Viele sprachen zum ersten Mal seit über 50 Jahren von ihren Ängsten, den Grausamkeiten, die sie als Frontsoldaten erlebt hatten. Es war, als hätte Steven Spielberg mit seinem detailgetreuen, blutigen Epos eines nachdrücklich erreicht: die bis dahin verschlossenen Türen im Gedächnis vieler US-Veteranen geöffnet.

Die Macht der Bilder ist, unbeabsichtigt zwar, das Thema des Dokumentarfilms von Ruth Beckermann. Die Regisseurin hat Besucher gefilmt, die sich in Wien die Wanderausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht ansahen. Wie bei Spielberg lösen die Bilder die Zungen der Betrachter. Die Bilder von Massengräbern, Erschießungen und der Demütigungen der Opfer entfalten ihre Wirkung. Ältere Männer und Frauen beginnen vor den Schautafeln zu erzählen. Stockend, hilflos nähern sich viele den lange verdrängten Erinnerungen. So beginnt in einer Szene ein früherer Wehrmachtssoldat zunächst alles abzustreiten, um mit dann, aus einem wirren Knäuel von Gedanken, die Erschießung einer Rotarmistin durch seine Kameraden zu schildern.

Allgemeinplätze und Berührtheiten

Behutsam nähern sich Beckermann und ihr Kamerateam den Besuchern, den Gruppen, die miteinander ins Gespräch kommen. Häufig ist es gerade die Anwesenheit der Kamera, die die Menschen zueinanderbringt. „Das waren Einzelfälle“, meint ein Rentner mit Hut, und sein Nebenmann antwortet: „Ja, sicher. Aber das war vorhanden.“

Keiner, der sich äußert, will selber an Erschießungen teilgenommen haben. Doch fast alle, selbst jene, die den Krieg im Osten noch im nachhinein zu rechtfertigen versuchen („Wir sind den Russen zuvorgekommen“, sagt eine Frau), stellen die Beweiskraft der Bilder nicht in Frage, nur erstaunlich wenige behaupten stur, von nichts gewußt zu haben. Manche flüchten sich zwar in Allgemeinplätze („jeder Krieg ist grausam“), doch wirklich unberührt bleibt keiner. Eine Frau steht beispielhaft für jenen Typus, der vergessen will und es doch nicht kann: Während sie die „idealistische Einstellung“ der Nazi-Zeit rühmt, geht ihr Monolog in eine minutenlange Verteidigung über. Den Tränen nahe, sortieren ihre Hände Zettel, immer und immer wieder. Stärker kann ein Film nicht erzählen.

Distanz und Takt statt Denunziation

Ruth Beckermann hat „Jenseits des Krieges“ mit einfachsten Mitteln gedreht. Es gibt nur die Ausstellung, die Menschen und die Kamera. Keine hektischen Schnitte, kein unterlegter Ton, keine Musik – ein Film, der an die Zuschauer und ihre 90er-Jahre-Sehgewohnheiten ungewohnte Anforderungen stellt. Die Regisseurin hält sich zurück, stellt knappe Fragen, wartet ab. Viele drängt es geradezu, ihre Erlebnisse einer anonymen Kamera zu schildern. Wohltuend hebt sich Beckermann ab von jenen Dokumentarfilmern, die ihre Gesprächspartner, die zugleich auch immer ihre Opfer sind, gnadenlos abfilmen, bis zum emotionalen Zusammenbruch. Wo sie nicht mehr sprechen wollen, wendet sich die Kamera taktvoll ab.

Es wäre ein leichtes für Beckermann gewesen, manche der Besucher als Ewiggestrige zu denunzieren. Doch weil sie den Besuchern Zeit läßt, werden die Brüche im Umgang mit der Erinnerung um so deutlicher. Gerade die holpernden Argumentationen und Rechtfertigungen zeigen, wie sehr diese Ausstellung notwendig war. Es gibt rührende Momente der Selbstreflexion angesichts der Bilder der Ausstellung. Ein Mann, der verzweifelt zu erklären versucht, warum er nicht desertieren konnte, sagt: „Ich weiß gar nicht mehr, wohin ich mich noch schämen soll.“ Auch das hätte ein Titel für den Film sein können. Severin Weiland

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