: Eine Hauptstadt in den Sumpf gerammt
■ Der Regierende Bürgermeister erklärt zum Regierungsumzug: Unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ein Wimpernschlag der Geschichte, 350 Jahre nach dem Westfälischen Frieden
Bis gestern Mittag schien es, als sei zum Regierungsumzug alles gesagt. Seit Wochen schon tagt das Kabinett in Berlin, seit ein paar Tagen auch das Parlament. Ganz Deutschland hatte sich darüber schon verbreitet. Ganz Deutschland? In einem kleinen Bundesland gab es einen Regierungschef, der standhaft glaubte, den rheinischen Eroberern noch ein paar Worte widmen zu müssen.
Also gab Eberhard Diepgen am Nachmittag vor dem Abgeordnetenhaus eine Regierungserklärung „zum Umzug von Bundestag und Bundesregierung nach Berlin“ ab. Sogar die Sprache der Römer hatte er sich angeeignet. „Sub specie aeternitatis“, also unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, so sprach der Bürgermeister, seien die zehn Jahre zwischen Mauerfall und Umzug „nur ein Wimpernschlag der Geschichte“.
Um den Hauch der Weltgeschichte sogleich zu einem Sturm anschwellen zu lassen, verglich er die Hauptstadtwerdung Berlins mit der Konstantinopels, Sankt Petersburgs und Brasilias. In Berlin aber, so Diepgen, sei „keine neue Hauptstadt wie am Bosporus aus der Erde gestampft, in das sumpfige Newa-Ufer gerammt oder in den südamerikanischen Urwald gesprengt“ worden. Dumm nur, dass die Stadt Byzanz schon fast ein Jahrtausend alt war, als Kaiser Konstantin sie unter dem Namen Konstantinopel zu seiner Hauptstadt machte. Es wäre auch interessant zu wissen, wie die Sprengung eines Urwalds vonstatten geht.
Was aber ist in jenem Zeitraum geschehen, den Diepgen als „Wimpernschlag“ bezeichnete? Richtig, der Senat hat „Großartiges geleistet“ und „beachtliche Reform- und Modernisierungsanstrengungen“ unternommen. Trotzdem: „Es bleibt viel zu tun“, und deshalb will Diepgen „das Kiezbewusstsein stärken“. Solche Veränderungen, glaubt er, würden „dem typischen Berliner mit Herz und Schnauze weitaus weniger schwer fallen als manchem Politiker“.
Natürlich muss der Bund dafür etwas tun. Um die Ansprüche Berlins zu begründen, griff Diepgen gar auf den vor 350 Jahren geschlossenen Westfälischen Frieden zurück. Damit wollte er wohl sagen, sonst drohe Kleinstaaterei wie im Heiligen Römischen Reich. Als Kronzeugen zitierte der Bürgermeister den Wiesbadener CDU-Wahlsieger Roland Koch – in der höchst bedeutsamen Funktion des Bundesratspräsidenten.
Den „Bundeskanzler“ nannte er dagegen nicht beim Namen wie auch sonst keinen SPD-Politiker mit Ausnahme Willy Brandts. In Wahlkampfzeiten ist eben nur ein toter Sozialdemokrat ein guter Sozialdemokrat. Ralph Bollmann
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