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Der Kampf der Geisterdörfer

Der Bürgermeister? Hat sich davongemacht. Der Bauer? Pokert noch. Die Frau von der Bürgerinitiative? Frustriert. Und der Vertreter der Rheinbraun will sich nicht festlegen. Ob Garzweiler II, das Braunkohlerevier an der niederländischen Grenze, ausgebaggert wird oder nicht, weiß keiner so genau. Fest steht nur: In Otzenrath, Spenrath und Holz hängt der Dorfsegen schief. Eine Ortsbegehung  ■   Von Heike Haarhoff (Text) und Jan Banning (Fotos)

„Ich erwarte nicht, dass es das letzte Mal war, dass über die Wirtschaftlichkeit von Garzweiler II debattiert wird.“

Spenrath.

Schwarz ist, was ihnen schon gehört. Ziemlich viel also. Mit dem Finger zeichnet Heinz Behr die Ränder des dunklen Flecks auf der Landkarte nach. „Sie stehen jetzt bei Jüchen“, erläutert er, kurz hinter Garzweiler und nur drei Kilometer vor seinem Haus in Spenrath. Bei Vollmond sieht Heinz Behr die Umrisse der Schaufelräder und Raupen ganz deutlich, und wenn es windig ist, weht schon mal Sand aus den tiefen Gruben herüber in seinen Garten. Sie werden weiter nach Westen vorrücken und weitere Dörfer nehmen.

Heinz Behr ist ihrer Pläne vor einiger Zeit habhaft geworden. Als Rentner hat er viel Zeit für Nachforschungen. Jetzt breitet er sie wie Schatzkarten auf seinem Esszimmertisch aus. Auf dem Blatt mit dem Titel „2005“ ist die Ortschaft Holz schwarz übertüncht. Die Karte „2010“ ist noch düsterer – auch die Nachbarsiedlungen Otzenrath und Spenrath sind verschwunden. „Da sind wir dann ein abgeschossenes Dorf“, sagt Heinz Behr, so als sei das eine unabwendbare Tatsache.

Dabei sah es noch vor einer Woche so aus, als würden die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE) einen Rückzieher machen von dem, was Heinz Behr wie einen Feldzug über die Rübenäcker der niederrheinischen Tiefebene beschreibt: Der Abbau der Braunkohle lohne nicht mehr unter den Höfen, den Häusern, den Schulen und den Kirchgärten von Otzenrath, Spenrath, Holz und den anderen winzigen Dörfern nahe der niederländischen Grenze, besser bekannt unter dem Reizwort „Garzweiler II“.

Schuld sei die Ökosteuer, hatte der Energiekonzern RWE behauptet. Die Ökosteuer bevorzuge die Gaskraftwerke und mache die Braunkohle unwirtschaftlich. Also werde man das Schlachtfeld von Otzenrath, Spenrath und Holz wohl räumen.

Heinz Behr hoffte. Er machte Pläne. Die Regenwasserzisterne, auf die er bislang verzichtet hat, der Klinker, der das Haus endlich gut isolieren würde, die neue Einbauküche, die sich seine Frau seit Jahren wünscht – Investitionen am Haus schienen wieder sinnvoll. Er vergaß fast, dass seine Verkaufsverhandlungen mit der RWE-Tochter Rheinbraun kurz vor dem Abschluss stehen und er sich auf dem freien Feld fernab des Kohlereviers, wo in einigen Jahren Neu-Spenrath entstehen soll, sogar schon ein Grundstück für sein neues Eigenheim ausgesucht hat. Egal. Er würde den Vertrag nicht unterschreiben.

Es war ein Hochgefühl wie vor zehn oder fünfzehn Jahren, als erstmals die Rede von der kraterähnlichen Baugrube an Stelle der Dörfer war, und Heinz Behr glaubte, er könne dem Bergbau trotzen, indem er Pechfackeln entzündete und durchs Dorf trug. „Genau genommen leben wir seit der Zeit in Ungewissheit“, sagt Heinz Behr. Er betrachtet seine Karten, als müssten wenigstens die eine Perspektive bieten.

Vielleicht hätte er ahnen müssen, dass die Beschwerde über die Ökosteuer nur ein Vorwand war. Tatsächlich sollten die Gaskraftwerke ja bloß die Steuervorteile erhalten, die Braunkohlekraftwerke bereits seit Jahren genießen. Vielleicht hätte er erkennen sollen, dass für die RWE der eigentliche Grund für einen etwaigen Abschied von Garzweiler II folgender ist: Heimischer Strom aus Braunkohle kann der ausländischen Konkurrenz kaum noch standhalten – mit oder ohne Ökosteuer.

In jedem Fall aber hätte er sich unruhige Nächte sparen und allein darauf kommen können: Jede Entscheidung für oder gegen den Braunkohleabbau bedeutet nur die Sicherheit, dass sie widerrufen werden kann. So auch diesmal. Die RWE-Bosse gewannen die Machtprobe mit den Politikern; in Sachen Ökosteuer wurde ein Kompromiss gefunden. Garzweiler II soll nun doch ausgekohlt werden, wie die Verwandlung der Region in eine Mondlandschaft im Bergbaudeutsch heißt. Und Heinz Behr soll sich wieder an den Gedanken gewöhnen, dass seine Frau die neue Küche eben doch erst in einem neuen Haus bekommen wird. Im besten Fall zu Lebzeiten.

Der örtliche Vertreter der Rheinbraun möchte sich diesbezüglich lieber nicht festlegen: „Ich erwarte nicht, dass es das letzte Mal war, dass über die Wirtschaftlichkeit von Garzweiler II debattiert wird.“

Heinz Behr ist jetzt 64 Jahre.

Otzenrath.

Hier also wohnt Gisela Reinartz, aber was heißt wohnen, fragt sie, wenn man jeden Tag die Schaufelradbagger, groß wie Schiffsrümpfe, näher rücken sieht? Sie hat „es satt“, sie will „klare Ansagen“. Die meisten hätten sich längst damit abgefunden, dass sie wegziehen müssen, sie auch, „und gucken Sie sich unsere Orte doch an“, fordert sie auf und fragt, „würden Sie da etwa bleiben wollen?“

Schlaglöcher werden schon lange nicht mehr gestopft. In Holz machte das letzte Geschäft vor drei Jahren dicht. Wer kann, sucht sich anderswo Arbeit. Ein Spaziergang durch Holz, Otzenrath oder Spenrath ist wie ein Gang durchs Seniorenheim.

100 von 700 Anwesen in den drei Dörfern sind bereits geräumt und an die RWE-Tochter Rheinbraun verkauft. „Da ist jetzt Schimmelpilz drin oder Asylanten“, sagt eine Nachbarin von Gisela Reinartz. Wohin die ehemaligen Bewohner sind, weiß sie nicht, „aus dem Staub halt“, und über die Preise, die dabei herausgeschlagen wurden, laufen neidvolle Spekulationen.

„Zwischen guten Nachbarn entstehen Feindschaften wegen 5.000 oder 10.000 Mark, die einer meint zu wenig gekriegt zu haben“, sagt Bente Berger. Es klingt müde. 14 Jahre hat sie sich in der Bürgerinitiative am Ort engagiert, hat gegen sinkende Grundwasserspiegel und klimazerstörende Energien mobilisiert, so lange, bis sie vor zwei Jahren todkrank wurde und feststellte: „Umweltschutz interessiert hier sowieso die wenigsten.“

Die Grünen, die sich im Land vergeblich mühen, die Bagger doch noch aufzuhalten, sind in diesem Jahr erstmals im Gemeinderat von Jüchen vertreten – und das auch nur, weil Nordrhein-Westfalen bei der Kommunalwahl die Fünfprozenthürde abschaffte, zischeln böse Zungen. Die Grünen stiften bloß Verwirrung, aber keine Umzugshilfe, heißt es im Dorf, und die Verwaltung klagt: „Dank ihrer Auftritte hätten wir hier fast Kreuzberger Verhältnisse gehabt.“

In ihrem Büro in Otzenrath berät die Juristin Bente Berger heute Umsiedler in Finanzfragen, vertraulich und einzeln, versteht sich.

Holz.

Dem ehemaligen CDU-Bürgermeister, der vor Jahren das Braunkohlegebiet verließ, wurde diese persönliche Entscheidung besonders verübelt. „Eines Tages“, erinnert sich der Bäcker Karl-Heinz Ehms aus Holz, „hatten alle im Dorf eine Fotokopie seines Kaufvertrags im Briefkasten.“ Wer die eingeworfen hat, ist nie herausgefunden worden. Vielleicht wollte man es auch nicht so genau wissen. Jeder, der sich da eingemischt hätte, wäre möglicherweise als nächster dran gewesen, wäre Sättigungsbeilage der dörflichen Gerüchteküche geworden. Seither jedenfalls ist der alte Bürgermeister nur noch einfaches Gemeindemitglied, und der Bäcker Karl-Heinz Ehms bangt, dass ihm Ähnliches blühen könnte.

Zwischen guten Nachbarn entstehen Feindschaften wegen 5.000 Mark, die einer meint zu wenig gekriegt zu haben.“

Denn Ehms ist auch in der CDU, die das Braunkohlerevier mit absoluter Mehrheit regiert, und er hat sich dafür stark gemacht, dass es eine verbindliche Planung gibt für ein Leben mit oder ohne Garzweiler II, egal, welchen Zickzackkurs in Düsseldorf die zerstrittene rot-grüne Landesregierung fährt. Einen eigenen Umsiedlungsbeauftragten hat die Gemeinde eingesetzt, und in einer Weise, die Demokratietheoretiker der 70er-Jahre wehmütig werden lässt, durften die Otzenrather, die Holzer und die Spenrather mit Architekten und Stadtplanern ihre künftigen Straßen, Schützenplätze und Vereinshäuser nach ihrem Geschmack auf dem Reißbrett entwerfen.

Nur er selbst habe da nicht mitziehen wollen, sagt Karl-Heinz Ehms, er mag sich „das nicht antun“. Lieber hat er seine Bäckerei in Holz aufgegeben und sich im Nachbardorf Hochneukirch rechtzeitig einen Altbau flottgemacht. Die Gardinen in seiner alten Wohnung freilich hat er vorsorglich hängen lassen, „dann sieht das nicht so tot aus“. Aber den Nachbarn ist sein Wegzug natürlich nicht entgangen; er habe seine Schäfchen ins Trockene gebracht, werfen sie ihm nun vor. Karl-Heinz Ehms nimmt das hin.

Denn was es bedeutet, in einer Neubausiedlung auf dem freien Feld heimisch zu werden, hat er bei Freunden und Kunden aus dem Abbaugebiet Garzweiler I beobachtet, die die Umsiedlung schon hinter sich haben: „Mindestens zehn Jahre Baustelle, da wäre ich dann bald 70, bis alles schön ist, und dann diese“, er sucht nach dem Wort, „diese Nickeligkeiten.“

Weil alles neu entschieden werden muss, gibt es ständig Streit, auch in Neu-Holz, Neu-Otzenrath und Neu-Spenrath: Bei der Abstimmung, ob die Siedlungen ihren Strom künftig über einen relativ teuren Fernwärmeanschluss beziehen sollten, bereicherte die katholische Kirche die Diskussion unlängst mit der Forderung, wer mehrere Grundstücke und Häuser besitze, müsse auch mehrere Stimmen haben.

Und „ganz schlimm“ sei es um die Gier des Bauern Josef Lüpges aus Hochneukirch bestellt, empören sich die Leute im Dorf. Nachdem alle Planungen für die neuen Siedlungen so gut wie abgeschlossen seien, stelle sich Lüpges plötzlich stur: Einen winzigen Zipfel Acker, der für die neuen Gemeinden unbedingt nötig sei, wolle er nun nicht mehr verkaufen. Stimmt gar nicht, sagt der Bauer, „der Preis stimmt bloß nicht“. 55 Mark den Quadratmeter habe die Rheinbraun ihm geboten für einen Acker, der derzeit wohl bestenfalls mit 9 Mark bewertet würde. Aber die Rheinbraun wird sein Feld später als Bauland und für 200 Mark den Quadratmeter verkaufen, ahnt Josef Lüpges, und an dieser Gewinnspanne möchte er stärker teilhaben. Dass die Gemeinde mittlerweile ein Enteignungsverfahren gegen ihn angestrengt hat, na und? „Notfalls“, dröhnt der Bauer, „verjage ich die vom Hof“, genau wie kürzlich diese „Halunken“ von der Rheinbraun, als sie ihn wieder mit „unseriösen Kaufangeboten“ heimsuchten. „Nichts, aber auch gar nichts mehr möchte ich mit denen zu tun haben“, sagt Josef Lüpges.

Abrupt steht er auf. Der Bauer hat keine Zeit mehr. Schließlich hat er noch einen Nebenjob: Meterhoch stapeln sich die Briketts in seiner Hofeinfahrt, Briketts von Rheinbraun. „Ich bin der letzte Kohlenhändler am Ort.“ Josef Lüpges macht sich zur Abfahrt bereit. „Das Geschäft lohnt sich.“

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