■ Holzmann: Soziale Individualisierung: Jeder für sich allein
Eindrücklicher lässt sich die Individualisierung infolge ökonomischen Zwanges kaum beschreiben. Wen kratzt es noch, was die Gewerkschaften und Unternehmerverbände in ihren Tarifverträgen einst vereinbart haben? Die Beschäftigten des krisengeschüttelten Baukonzerns Holzmann und ihren Betriebsrat jedenfalls nicht. Um die Arbeitsplätze zu retten, verzichten sie auf 16 Prozent ihres Lohnes pro Monat oder alternativ ein Monatsgehalt pro Jahr. Jeder Beschäftigte wird diese Regelung individuell unterschreiben, obwohl der Tarifvertrag den Anspruch erhebt, für Millionen Arbeiter gültig zu sein.
Die Praxis der individuellen Unterschrift kaschiert nur mühsam, dass die Löcher im Tarifvertrag immer größer werden. Die individuellen Öffnungsklauseln unterminieren den Branchenvertrag, was die Gewerkschaft bisher immer zu verhindern suchte. Der Holzmann-Betriebsrat hat diesen Systembruch gegen die eigene Gewerkschaft durchgesetzt. Die Koalition zwischen den Arbeitern und ihrer Organisation zerfällt.
Ähnlich verschreckt wie die Gewerkschaft reagieren auch die Unternehmerverbände. Auch sie haben eigentlich kein Interesse daran, dass Holzmann dank billiger Löhne die Baupreise weiter ruiniert. Dass der Bauindustrieverband die Holzmann-Regelung nun politisch auszuschlachten versucht und allgemeine Öffnungsklauseln im Tarifvertrag fordert, kann einen grundsätzlichen Umstand nicht verdecken: Auch der Holzmann-Vorstand hat seinen Verband vorher nicht gefragt. Die bisherigen Regelungsmechanismen der bundesdeutschen Nachkriegsökonomie werden von der Wirklichkeit überholt. Darauf muss sich die Gewerkschaft einstellen oder sie wird ihren Einfluss verlieren. Hannes Koch
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