: Eine leere Garantie
In Hessen wird „keine Schulstunde mehr ausfallen“, hat Ministerpräsident Roland Koch versprochen – und Wort gehalten. Mit fatalen Folgen für alle Beteiligten
von CLEMENS NIEDENTHAL
Herr K. hat aufgegeben. Er ist jetzt wieder einfach nur Rentner, nach 45 Jahren in der Prokura eines nordhessischen Agrarhandels. Zunächst hatte er nur darum gebeten, „zumindest keine Hauptschulklassen mehr unterrichten zu müssen. Die haben ja eh nicht auf mich gehört.“ Kurz vor Weihnachten war dann endgültig Schluss. Zumindest auf ihn, der „über die ganze Sache“ am liebsten gar nicht mehr reden möchte, muss die hessische Kultusminsterin Karin Wolff künftig verzichten.
Die „Unterrichtsgarantie Plus“ geht ohne den Rentner weiter. Er habe schon genug daran zu knabbern, dass er sich gegen die Schüler nicht durchsetzen konnte. „Es ist halt eine andere Zeit.“
Aber vielleicht fehlt Herr K. auch einfach nur das stoische Gemüt einer Karin Wolff. Dieser unbedingte Wille, einfach trotzdem weiterzumachen. Eine so breite Front jedenfalls hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik selten gegen die Schulpolitik eines Kultusministeriums formiert.
Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerschaften – was da momentan in Wiesbaden passiert, das kann und will niemand verstehen. Schülervertretungen rufen zum Streik, und selbst linksliberale und konservative Lehrerverbände sind urplötzlich der selben Meinung.
Dabei gleicht die mit Beginn dieses Schuljahres eingeführte „Unterrichtsgarantie Plus“ ein wenig dem Scheinriesen aus Michael Endes „Jim Knopf und die Wilde 13“: Aus der Ferne betrachtet – und das ist ja, so der Kniff der Landesregierung, die Perspektive der meisten Wählerinnen und Wähler –, klingt die Sache noch ganz gut, wirken die Floskeln, mit denen Roland Koch höchstselbst für das Programm wirbt, zumindest halbwegs plausibel. Von veränderten Arbeitswelten ist da die Rede. Davon, dass „Schüler und Eltern einen Anspruch darauf haben, dass Schule verlässlich und berechenbar in ihren Zeiten ist“. Und auch dass Jugendliche nicht bereits morgens um 11 Uhr unbeaufsichtigt in hessische Innenstädte entlassen werden sollen.
Beide Argumente – das neoliberale Bild einer Dienstleistungsschule, die sich auf die Bedürfnisse der arbeitenden Eltern einstellt, und das konservative Bild einer Verwahranstalt – spiegeln die Welt- und Selbstsicht einer hessischen CDU unter Roland Koch. Womit das grundlegende Problem dieser Schulpolitik bereits beim Namen genannt wäre: Letztlich geht es ihr gar nicht um die Schule und noch weniger um die Schüler. Es geht ihr darum, mit schmissigen Klischees um den eigenen Machterhalt zu werben. Schon seine erste Wahl zum Ministerpräsidenten hatte Roland Koch im Jahr 1999 ja über die Themen Unterrichtsgarantie und Migrantenfeindlichkeit gewonnen.
Aus der Nähe betrachtet, also in den Klassenzimmern selbst, offenbart die „Unterrichtsgarantie Plus“ ihr strukturelles, manchmal groteskes Dilemma. Wenn Karin Wolff davon spricht, dass „der erfahrene Jugendtrainer die erkrankte Sportlehrerin ersetzen“ könne, sieht dies in der Unterrichtspraxis einer oberhessischen Grundschule konkret folgendermaßen aus: Der „erfahrene Jugendtrainer“ maßregelt eine Grundschülerin lautstark und aggressiv, weil diese seine Anweisungen offensichtlich mehrfach ignoriert habe – die Schülerin ist hochgradig hörbehindert und nur aufgrund einer Integrationsmaßnahme überhaupt in der Lage, eine Regelschule zu besuchen. Und wenn Karin Wolf „wiederholendes Lernen unter Anleitung einer qualifizierten, erfahrenen Mutter“ verspricht, sei zunehmend zu beobachten, dass vor allem solche Eltern in die Schulen drängen, „die im Interesse ihres eigenen Kindes agieren wollen“, wie eine Lehrerin konstatiert. Das dritte vom Kultusministerium kolportierte Beispiel, „die pensionierte Studienrätin vertritt den erkrankten Referendar“, ist wohl als hessische Version der Rente ab 67 zu lesen.
Auf dem Marburger Marktplatz tummeln sich an einem Dezembermittag jene, die das alles am unmittelbarsten betrifft, Schüler und Schülerinnen eines ehrwürdigen Gymnasiums. Unsere Zukunft also, von der auch Roland Koch so gerne spricht. „Ein Wettbewerb im Rumsitzen“ seien die Vertretungsstunden meistens, resümiert der vierzehnjährige Moritz: „Meistens machen wir halt unsere Hausaufgaben.“ Am Anfang sei das ja noch ganz lustig gewesen, aber man wolle ja auch etwas lernen und müsse ja auch an die Zukunft denken.
Mindestens das, einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden, haben hessische Schüler ihrer Schulpolitik offensichtlich voraus.
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