: Einsatz für das Kindeswohl
Trotz häufigerer Meldungen: Es werden nicht mehr Kinder vernachlässigt als früher, sagen Experten. Die Behörden gehen sensibler mit dem Thema um. Spandau ist Vorreiter im Kinderschutz
VON PLUTONIA PLARRE
Allein im Januar hat die Polizei über zehn Fälle gemeldet, in denen Kinder aus vermüllten Wohnungen geholt wurden. „Die Wände der Kinderzimmer waren von Schimmel befallen“, hieß es in einer Meldung. „Nicht nur die Toilette, auch die Badewanne war mit Exkrementen gefüllt“, in einer anderen.
Die Vielzahl der Meldungen erweckt den Eindruck, Kindesvernachlässigungen hätten in Berlin dramatisch zugenommen. Der Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, dass allein in dieser Woche im Kriminalgericht vier Prozesse gegen Eltern wegen Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch ihrer Kinder stattfinden. Auch die Zahlen sind entsprechend: 2005 zählte die Polizei 856 Fälle von Kindesvernachlässigung und -misshandlung. 2004 waren es 739 gewesen. Die Zahlen für 2006 dürften noch höher sein.
Und doch sind sich Experten in Jugendämtern und bei der Polizei ziemlich einig: Es werden nicht mehr Kinder als früher misshandelt oder vernachlässigt. Es werden nur mehr Fälle angezeigt. Öffentliche Plakataktionen und Schulungen zum Thema Kinderschutz hätten endlich Früchte getragen: Die Bevölkerung sei aufmerksamer, Sozialarbeiter und Polizei reagierten schneller, heißt es.
Dazu kommt, dass die Presse im Gegensatz zu früher nahezu über jeden Vorfall berichtet. Artikel über Kinder, die mit ihrem Meerschweinchen und der betrunkenen Mutter gemeinsam im verdreckten Bett schlafen, verkaufen sich gut. Eine regelrechte Kinderschutz-Hysterie in der Öffentlichkeit sei ausgebrochen, beklagen Kritiker. Ein solches Klima befördere Denunziation und verleite Behörden dazu, Kinder vorschnell aus ihrem gewohnten Umfeld zu reißen.
Der Bezirk Spandau gilt in Berlin als Vorreiter in Sachen Kinderschutz. „Ich wünschte, die Berichterstattung würde sachlicher und weniger spektakulär erfolgen“, sagt Jugendstadträtin Ursula Meys (SPD). Jeder Hinweis auf Kindesvernachlässigung, der Spandau betrifft, landet auf dem Tisch der Jugendstadträtin und dem des Jugendamtsleiters Gerd Mager. Spandau ist der einzige Bezirk, der sich seit zwei Jahren einen mobilen Krisendienst mit vier Sozialarbeitern leistet. Das Team überprüft Hinweise, indem es sofort Hausbesuche macht. „Wenn das Kindeswohl akut gefährdet ist, darf das Kind sofort mitgenommen werden“, so Amtsleiter Mager.
Die Frage ist nur: Wie beurteilt man das? Mager spricht von einer Gratwanderung, die viel Fingerspitzengefühl erfordert. Ein Kind, das im Dreck lebe, sei zwar potenziell gefährdet, aber Dreck sei nicht gleich Dreck. „Wenn Müll, Ungeziefer und Haustiere noch dazukommen, ist der Fall für uns ziemlich klar.“ Anders sei es, wenn nicht saubergemacht werden sei, weil die Mutter bettlägerig ist oder andere Katastrophen die Familie aus der Bahn gekippt haben. Dass die Kinder den Eltern weggenommen werden, geschehe nur äußerst selten, sagt Mager. In der Regel reiche es aus, der Familie mit Rat und Tat unter die Arme zu greifen.
So war es am 11. Januar, als die Polizei zwei kleine Mädchen aus einer verdreckten Wohnung in Spandau geholt hatte. Die Wände waren mit Schimmel befallen. „Es war ein heilsamer Schock“, sagt Stadträtin Meys. Die Eltern, die noch zwei 14- und 15-jährige Söhne haben, hätten aufgeräumt und saubergemacht. Nach dem Umzug in eine trockene Wohnung bestünden gute Chancen, die Töchter zurückzubekommen. Für die Jungen, die beim Aufräumen tatkräftig mithalfen, hatten die Presseberichte indes böse Folgen: „Sind an ihrer Schule als Messiefamilie verschrien.“
Nichtsdestotrotz: Der Kinderschutz in Berlin sei wesentlich besser als früher, freut sich Mager. Der 63-Jährige ist seit 1989 Jugendamtsleiter in Spandau. Gut in Erinnerung ist ihm noch der Fall einer Mutter, der es vor vielen Jahren gelang, ihren zehnjährigen Sohn mit Unterstützung der Presse aus dem Heim zurückzubekommen. „Die Zeitungen schrien: ‚Kinderklau‘.“ Danach war die Frau mit dem Jungen, an dem sie Teufelsaustreibung praktizierte, für immer untergetaucht. „Das“, so Mager, „wäre heutzutage undenkbar.“
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