: Abstieg der Überpower
Der Publizist Josef Joffe denkt ausführlich darüber nach, was man aus der Bismarck-Zeit für die heutige Weltpolitik lernen kann. Das Ergebnis: nichts. Aber auf jeden Fall müssen wir mit der aktuell einzigen Supermacht wirklich vorsichtig umgehen
VON SIBYLLE TÖNNIES
Der deutsche Titel „Die Hypermacht“ ist eine Übersetzung. Zunächst ist das Buch in den USA unter dem Titel „Überpower“ erschienen. Das deutsche Wort „über“ wird dort von Gebildeten verstanden. Nietzsches „Übermensch“ ist ihnen vertraut: der heroische Typ, der „Jenseits von Gut und Böse“ steht und seine Sache durchzieht, statt sich von Recht und Moral ankränkeln zu lassen.
Von den Nazis wurde der Übermensch denn auch zum Vorbild erhoben. Joffe nennt die USA zwar „Mr. Big“. Genau wie der Übermensch steht aber auch Mr. Big jenseits von Gut und Böse, vor allem – jenseits der Regeln des Völkerrechts.
Für Joffe ist das Völkerrecht jedoch überhaupt kein Thema. Seine Betrachtungen stehen jenseits der Basis-Unterscheidung, nach der sich im Völkerrecht Gut und Böse trennen. Ob die USA einen (verbotenen) Angriff oder eine (erlaubte) Verteidigung vornehmen – das interessiert ihn gar nicht. Ob sie präventiv oder präemptiv angreifen, rechtzeitig also oder im letzten Moment – das ist für ihn die Frage.
Joffe kann auch erklären, warum das so sein muss. Die Einordnung der USA in das UN-System der kollektiven Sicherheit kann nicht gelingen, weil dieses System keine überwältigende Militärmacht besitzt. Ihm fehlt die Exekutive. Ohne der Supermacht Schutz gewähren zu können, verlangt es von ihr Gehorsam gegenüber dem Angriffskriegsverbot. Das kann nicht funktionieren – damit zumindest hat Joffe vollkommen Recht.
Soweit der Weltfrieden auf Furcht beruht, ist es nicht die Furcht vor der UNO, sondern die Furcht vor den USA. Insofern ist es nicht Größenwahn, es nervt nur, wenn Joffe immer wieder sagt: Die Amerikaner sind die Größten, und das ist gut so – nicht nur für die Amerikaner, sondern auch für den Rest der Welt. Die Sicherheit in der Welt ruht auf den Schultern der USA. Kommt bei Joffe der „Übermensch“ auch nicht ausdrücklich vor, so doch der „Überjude“. Im Unterschied zur Überpower ist er für Joffe allerdings ein Wahngebilde. „Israel als ‚Überjude‘ und Amerika als dessen Lakai regieren nunmehr die Welt“ – mit diesen Worten fasst er die landläufige Auffassung zusammen, die er „Verschwörungstheorie“ nennt.
Mit diesem Urteil ist er genauso wie alle anderen Verfechter der amerikanischen Außenpolitik zu schnell bei der Hand. Wenn sich USA und Israel in der Wahrnehmung der Welt-Überpower übereinander schieben, wenn Antiamerikanismus mit Antisemitismus verschmilzt, so liegt dem eine Tatsache zugrunde: die immer weiter fortschreitende Modernisierung der Welt, die Verwandlung der partikularen Gemeinschaften in eine Weltgesellschaft. Viele Protagonisten dieses Prozesses waren in der Geschichte europäische und sind in der Gegenwart amerikanische Juden.
Diese Feststellung ist nur dann antisemitisch, wenn man die unumkehrbare Umwandlung von Gemeinschaft in Gesellschaft mit Angst und Hass betrachtet. Israel und USA sind insofern natürliche Verbündete und teilen sich die Last der Überpower. Joffe vergleicht die USA gerne mit der Nabe eines Rades, um die herum die anderen Mächte als Speichen stehen.
Tatsächlich aber ist Israel Teil der Nabe. Wann erscheint endlich eine Analyse der Weltpolitik, die diesen Konnex zugibt, ohne ihm Hass entgegenzubringen? Das böse Geflüster, das jetzt die Debatte belastet, würde aufhören, und man könnte frei über die Tatsachen sprechen. Offenkundig sind doch der letzte Irakkrieg und die hohe Wachsamkeit der USA gegenüber dem Iran nur durch die besondere Besorgnis um die Sicherheit Israels zu erklären. Dieses heiße Thema wird in Joffes Analyse sorgsam gemieden. Nur auf der Anti-Seite – Antiamerikanismus, Antisemitismus – erscheinen die USA und Israel im Zusammenhang.
Seinen Umfang erhält das Buch durch die ausführliche Darstellung der europäischen Außenpolitik in der Bismarck-Zeit, als die Engländer auf die Erhaltung des europäischen Gleichgewichts und die Deutschen auf geschickte Bündnisse aus waren. Die Leser, denen die Einzelheiten dieser Epoche in der Schule Kopfschmerzen bereitet haben, mögen dabei ihre Kenntnisse auffrischen. Aber dem Thema, das sich Joffe gestellt hat – wie sollen die USA mit ihrer absoluten Übermacht umgehen? –, nützen sie nichts. Denn wann immer er die Frage stellt, ob englische Gleichgewichts- oder Bismarck’sche Bündnispolitik am Platze sei, kommt er zu der Feststellung: weder – noch. Die Situation, dass die Welt eine einzige Supermacht hat, ist völlig neu; die Betrachtung der Geschichte bringe gar nichts. Eine neue Lösung muss her.
Sie bleibt aber aus. Bis zur letzten Seite hofft der Leser auf einen Vorschlag, wie diese historisch einmalige Lage zu bewältigen ist. Aber die Antwort auf die Frage, wie die USA mit ihrer absoluten Übermacht umgehen sollen, ist am Ende: ganz vorsichtig! Diese Erkenntnis macht das Buch nicht gerade lesenswert. Dennoch ist seine Botschaft nicht trivial. Die Behauptung, dass die USA unbesiegbar sind, zieht notwendige Folgerungen nach sich – genau wie die gegenteilige Behauptung, dass sie sich im Abstieg befinden.
Alles Nachdenken über die richtige Weltpolitik leitet sich heute von der Einschätzung der Frage ab, ob es mit den Vereinigten Staaten aufwärts oder abwärts geht. Niemand kann es wissen, jeder kann die Zahlen und Fakten auf seine Weise werten. Aber niemand kann heute außenpolitisch Stellung nehmen, ohne in dieser Frage eine Meinung zu haben.
Josef Joffe: „Die Hypermacht. Warum die USA die Welt beherrschen“. Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wirthen-sohn. Carl Hanser Verlag, München 2006, 256 Seiten, 21,50 Euro
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