Die triste Normalität

Der Weg der Türkei nach Westen ist unterbrochen, die demokratische Entwicklung blockiert. Der Politik fehlt die Fähigkeit zum Kompromiss – dem Land die EU-Perspektive

Für einen kurzen Zeitraum gab es unter den Eliten der EU eine knappe Mehrheit für die Türkei

Auf den ersten Blick scheint die zeitliche Übereinstimmung der Krise in der Türkei und der Wahl von Nicolas Sarkozy zum neuen französischen Präsidenten reiner Zufall. Bis zu einem gewissen Grad ist sie das auch. Das die türkischen Generäle mit einem Putsch gedroht haben, hatte nichts mit ihrer Annahme zu tun, dass zehn Tage später die Rechte die Wahlen in Frankreich gewinnen würde. Und doch kommen mit der Wahl des konservativen Franzosen und der Rückkehr des Militärs auf die politische Bühne zwei Entwicklungen zu ihrem jeweiligen Endpunkt, die einen unmittelbaren inneren Zusammenhang haben.

Als in Frankreich vor ziemlich genau zwei Jahren im Mai 2005 die EU-Verfassung in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde, führten dass etliche französische Politiker auch darauf zurück, dass die Mehrheit der Bevölkerung damit ihre Ablehnung einer immer größer werdenden Europäischen Union und insbesondere einer möglichen Mitgliedschaft der Türkei zum Ausdruck gebracht hat.

Ob zu Recht oder nicht, die Konsequenzen dieser Abstimmung für die Türkei waren jedenfalls deutlich. Hatten bis dahin der deutsche Regierungschef Gerhard Schröder und sein englischer Kollege Tony Blair einen zögernden Jacques Chirac – mit Mühe, aber letztlich doch erfolgreich – für einen türkischen EU-Beitritt erwärmen können, drehte sich jetzt das Blatt. Für einen relativ kurzen Zeitraum gab es unter den Eliten und Mitgliedsländern der EU eine knappe Mehrheit für die Türkei. Er reichte gerade noch bis zu dem förmlichen Beschluss, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Diese Mehrheit schwand nach den misslungenen Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden, kippte mit dem Wechsel von Schröder zur CDU-Kanzlerin Merkel und ist mit der Wahl Sarkozys nun zu einer unübersehbaren, manifesten Ablehnung geworden.

Entsprechend verliefen bislang die Beitrittsgespräche. Von 35 Kapiteln wird nach eineinhalb Jahren gerade mal über zwei verhandelt. Acht Kapitel sind ganz suspendiert. „Sind die Türken doch selber schuld, hätten sie ihre Häfen und Flughäfen für Zypern geöffnet, wäre alles ganz anders gelaufen“, wird dagegen eingewendet. Aber das ist kaum mehr als ein formalistischer Hinweis.

Tatsächlich begann schon vor dem förmlichen Beschluss zu Beitrittsverhandlungen eine Abwärtsspirale im türkisch-europäischen Verhältnis, die sich bald immer schneller drehte und auch von keiner Seite mehr gestoppt wurde. Die schlechte Stimmung verstärkte sich gegenseitig. Vom ursprünglichen Enthusiasmus in der türkischen Bevölkerung für Brüssel war bald immer weniger zu spüren. Das hatte nicht so sehr mit konkreten Maßnahmen, die die EU einforderte und die in der Türkei als schmerzlich empfunden worden wären, zu tun. Ursache war die über alle Kanäle in hundertfachen Varianten immer wieder kommunizierte Botschaft „Wir wollen euch eigentlich nicht – ihr seid keine Europäer.“ Diese Botschaft hat die Bevölkerung zutiefst empört.

Die Opposition gegen Erdogan, die sonst kaum etwas zu bieten hatte, griff die Botschaften auf und verwandelte sie in eine nationalistische Kampagne. Die Europäer wollen uns spalten, hetzen die Minderheiten auf, unterstützen alle Oppositionelle gegen unseren geliebten Staat, wollen sich unseren Boden aneignen et cetera pp. Je weniger Erdogan an Verhandlungsergebnissen mit Brüssel vorzuweisen hatte, je mehr fiel diese Kampagne auf fruchtbaren Boden. Die Stimmung verwandelte sich von Zustimmung über Skeptizismus bis zu in Teilen offener und wütender Ablehnung.

Jürgen Gottschlich ist taz-Korrespondent in Istanbul. Er ist einer der Mitbegründer dieser Zeitung, später war er Inlandsredakteur und in den Neunzigerjahren Chefredakteur. Er schreibt regelmäßig für die Debattenseite der taz.

Eine Schlüsselrolle für die nationalistische Kampagne spielte Zypern. Beflügelt von seiner EU-Perspektive hatte Erdogan mit erheblichem politischem Risiko durchgesetzt, dass die Blockadepolitik der Türkei und des türkisch-zypriotischen Präsidenten Denktaș aufgehoben wurde und so erheblich dazu beigetragen, dass die türkischen Zyprioten dem Annan-Plan zustimmten. Dann musste er ziemlich fassungslos mit ansehen, wie die griechisch-zypriotische Seite den Plan platzen ließ, Mitglied der Europäischen Union wurde und seitdem der EU die Bedingungen für die Verhandlungen mit der Türkei diktiert. Als die EU im Dezember letzten Jahres dann förmlich beschloss, auf Drängen der griechischen Zyprioten acht Kapitel des Verhandlungspakets ganz auf Eis zu legen, war für die Regierung Erdogan klar, dass sie mit ihrem Europa-Projekt gescheitert war.

Ab da ging es für die AKP darum, ihren Machterhalt auch ohne die Hoffnung auf die EU abzusichern. Unter anderem deshalb wollte und will die AKP sich den Posten des Staatspräsidenten unbedingt sichern. Dasselbe gilt für die Armee. Die Armee hat nicht deshalb mit Putsch gedroht, weil sie damit verhindern wollte, dass es Erdogan gelingen könnte, die Türkei in eine strahlende EU-Zukunft zu führen, sondern genau im Gegenteil, weil auch die Generäle nicht mehr daran glauben, dass die Türkei im Westen noch die geringste Chance hat.

Der stillschweigende Deal zwischen der AKP und dem säkularen Teil der türkischen Gesellschaft war ja gerade, dass die islamische AKP, anders noch als ihre Vorgängerpartei in den 90er-Jahren, versprach, die Türkei im säkularen Europa zu verankern. Deshalb bestehe auch keine Gefahr, dass sie gleichzeitig aus der Türkei einen Gottesstaat machen könnte. Diese Übereinkunft war neu. Je besser das Europa-Projekt lief, umso eher konnten sich die Generäle nach ihrem eigenen Verständnis heraushalten. Je schlechter es lief, umso mehr stiegen die Spannungen, verblasste die befriedende Wirkung, die die Hoffnung, ein Teil des säkularen Europas zu werden, eine Zeit lang hatte.

Was zurzeit passiert, könnte man, leicht zynisch, als ein „Zurück zur Normalität“ bezeichnen. Demokratie war in der Türkei, auch nach der Einführung des Mehrparteiensystems in den Fünfzigerjahren, immer eine nur relative Größe. Millionen Menschen haben in der Vergangenheit akzeptiert, dass das Militär in innere politische Konflikte eingreift, und tun dies auch heute noch. Dass in einer Demokratie Politik die Kunst des Kompromisses zur Verhinderung von Gewalt und eines friedlichen Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten ist, ist bislang nicht wirklich unverrückbar in den Köpfen der politischen Klasse verankert.

Je besser das Projekt Europa lief, umso eher konnten sich die Generäle heraushalten

Das momentane Gezerre um Wahltermine und Wahlmodalitäten zeigt, wie schwach die demokratischen Institutionen immer noch sind. Die nächsten Wochen werden nun zeigen, ob die Türkei wirklich, wie Erdogan behauptet, zu einem normalen demokratischen Prozess zurückfindet. Es wird auch sichtbar, ob die Türkei, auf sich selbst zurückgeworfen, Standards, die in den letzten sechs Jahren etabliert wurden, beibehält oder in das Chaos der Neunzigerjahre zurückfällt. Der Ausgang dieses Prozesses ist im Moment jedenfalls noch völlig offen.

JÜRGEN GOTTSCHLICH