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Wolffsohns Revier

Viele kennen ihn nur als provokanten Historiker. In der „Gartenstadt Atlantic“ hat man andere Erfahrungen mit Michael Wolffsohn: Die Wohnanlage ist ihm Experimentierfeld für ein Miteinander der Kulturen

Wolffsohn, der sich als Jude in Deutschland sehr verletzlich fühlt, ist im Wedding zu einem Beschützer geworden

VON WALTRAUD SCHWAB

Groß, schlaksig und rasenden Schrittes kommt Michael Wolffsohn daher. Nur sein leicht gebeugter Rücken passt nicht ins Bild. Der hat etwas mit den 60 Jahren zu tun, die er am Vatertag vollendet. Herzlichen Glückwunsch. Trotzdem sieht Wolffsohn aus wie ein zu schnell gewachsener Junge, dem seine Beine im Weg sind. Auch die Arme wirft er um sich, als gehörten sie einer Marionette. Einzig seine Augen sind ruhig. Mit denen fesselt er, denn er will überzeugen. Von einer Meinung. Seiner natürlich. Mitunter wird sein sprachmächtiges Drängen so groß, dass es nötig scheint, ihn zu stoppen. Da helfen Mascha Kalékos Verse am besten: „Eines lässt sich nicht bestreiten: Jede Sache hat zwei Seiten – die der andern, das ist eine, und die richtige Seite: deine.“

„Nein, nein, so nicht“, widerspricht Wolffsohn. Er verehrt die Lyrikerin aus dem polnischen Galizien. Jüdisch wie er, hat sie mit Worten der Realität getrotzt. Aber dass seine Meinung die einzig richtige sei, das akzeptiert er nicht. Dafür sieht er sich zu sehr als jemand, der laut denkt, wenn andere noch schlafen. „Wer laut denkt, der macht Fehler“, sagt er.

Kaléko und Wolffsohn teilen sich die Liebe zum Altklugen. Nur dass die Dichterin ihre Meinung mit Charme unter die Menschen trug. Wolffsohn ist direkter. Dem türkischstämmigen Inhaber des Café Lichtburg mitten im Wedding erklärt er schon mal gestenreich, was auf der Speisekarte fehlt: „Frisches Obst muss ins Angebot.“ Der Mann verbeugt sich und bleibt doch skeptisch: „Meinen Sie, Herr Professor?“ Wolffsohn weiß es ganz genau. Er nimmt seinen Nachmittagskaffee gerne am Gesundbrunnen ein. Man kennt ihn hier.

Café Lichtburg, Kaléko, Wedding? Kaum jemand bringt Michael Wolffsohn damit in Verbindung. Geht es um diesen Mann, der eigentlich in München lebt und an der Bundeswehrhochschule Neuere Geschichte lehrt, werden Stichworte und Zitate von viel härterem Format in die Arena geworfen: „Ich bin ein deutscher Patriot“ steht da stramm neben „Deutschland hat sich seiner jüdischen Tradition beraubt“. Oder „Israel hatte im letzten Sommer keine andere Wahl, als in den Krieg zu ziehen“, neben „Als eines der Mittel im Kampf gegen den Terrorismus halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim“. Legitim, nicht legal. Vertretbar, nicht gesetzlich. „Legitim“ lasse moralischen Spielraum.

Der 1947 in Israel geborene Sohn jüdischer Emigranten denkt nicht gradlinig. Das verstehen Leute, die geradlinig denken, nicht. Dass er, der Jude, sich als deutschen Patrioten bezeichnet, irritiert manche. Dass er die Meinung vertritt, die Deutschen hätten den Holocaust aufgearbeitet, gefällt anderen nicht. Dass er deutsche Kritik an Israel trotzdem für problematisch hält, stört wiederum Dritte. Die Folterdebatte hat ihn sowieso fast um Job und Ruf gebracht.

Neuerdings gibt es aber ein paar Leute im Wedding, für die ist er, wenn er etwas sagt, nur „der Herr Professor“. Im Kiez unweit des Gesundbrunnens, da wo der Bezirk am härtesten ist, ist es den Leuten egal, ob jemand geradlinig denkt oder nicht. Als Herr Professor darf Wolffsohn komisch sein. Und Ideen haben, die keiner versteht. Er hat dort, gegenüber dem Gesundbrunnenzentrum, das Lichtburgforum ins Leben gerufen – ein kleines Kulturzentrum, das den „deutsch-jüdisch-türkischen Dialog“ pflegen soll. „Lassen Sie mal gut sein“, antwortet eine Passantin, gefragt, ob sie einmal eine Veranstaltung besucht hat, „ich hab andere Sorgen.“

Die Sorgen der kleinen Leute am Gesundbrunnen – das ist das Stichwort für Wolffsohn. Für sie ist er zuständig. Spricht man die Menschen hier in der Ecke auf den Professor an, werden sie weich. „Er hat immer ein Ohr für den, der mit Problemen zu ihm kommt“, sagt Frau Kummer aus dem Hertha-Fanshop neben dem Lichtburgforum. Auf Wolffsohns Initiative hin wurde ihr Kiosk um die Hertha-Devotionalien erweitert, denn hier, am Gesundbrunnen, stand die Wiege des Clubs. „Wir haben viel weniger Schmierereien an den Wänden als früher“, sagt ein Handwerker aus der Zingster Straße. Andere bestätigen das: „Ich glaube, der Wolffsohn will, dass es hier besser geht, wo doch der Wedding so am Boden ist“, sagt eine Frau, die schon 30 Jahre im Kiez wohnt. Es liegt eine Hochachtung in den Stimmen der Leute. Jene Hochachtung und Zuneigung, die man Menschen entgegenbringt, die einen schützen. Wolffsohn, der sich als Jude in Deutschland sehr verletzlich fühlt, regelmäßig Morddrohungen von Nazis erhält und Briefe lesen muss, in denen steht „Wir hängen dich an deinem beschnittenen Judenschwanz auf“, Wolffsohn ist im Wedding zu einem Beschützer geworden.

Hier im Kiez steht die Gartenstadt Atlantic, ein drei Häuserblocks umfassendes Ensemble mit ungefähr 500 Wohnungen. Was lange nicht gesagt werden durfte, da Wolffsohn antijüdische Bedrohungen fürchtete: Er hat die Atlantic vor ein paar Jahren geerbt. Damals war es eine der heruntergekommensten Adressen Berlins. „Ich, ein Slumlord“, sagt er. „Verkaufen“, rieten ihm die Finanzberater „für eine zweistellige Millionensumme.“ Sich mit seiner Familie ein schönes Leben machen. „Getreu dem Motto: Nach mir die Sintflut.“

Wolffsohn hat nicht auf die Finanzberater gehört. Er hat sich für den Rest seines Lebens verschuldet und die Gartenstadt wieder aufgebaut. Er hat Mieterbeiräte gegründet, die erste Anlaufstellen bei sozialen Problemen sind, und einen Nachbarschaftspreis ausgelobt. Er hat die Lichtburg-Stiftung ins Leben gerufen, um Geld für Veranstaltungen im kleinen Kulturzentrum in dieser übersehenen Ecke zu organisieren. Er hat Künstler angelockt, die sich in der Gartenstadt einmieten. Er hat die großen Innenhöfe begrünt und lebenswert gemacht. Die Atlantic ist Wolffsohns Vermächtnis an Berlin. „Ich hab am Gesundbrunnen mein Vermögen verbuddelt“, sagt er. Von allen Seiten werde ihm mit Unglauben und Misstrauen begegnet: „Dass ein Jude auf sein Vermögen verzichtet, das passt nicht ins Bild“, meint er. Dabei habe die Kultur des Gebens zur Weltsicht des jüdischen Bürgertums in Deutschland gehört, erklärt er mit fliegenden Händen. Im Faschismus wurde diese Grundlage der bürgerlichen Kultur zerschlagen.

Der Brief eines Mieters habe den Ausschlag gegeben, sich den Besitz genauer anzuschauen. Der Mann beschwerte sich über Kinder, die auf Mülltonnen spielen. Ein paar Fotos schickte er auch mit. „Dass die Kleinen keinen anderen Platz zum Toben haben“, entsetzte Wolffsohn. Denn als sein Großvater, Karl Wolffsohn, die Gartenstadt baute, standen die Reformideen der 20er-Jahre Pate. Licht, Luft und Sonne sollte in die dicht besiedelten Städte gebracht werden. Mittlerweile ist das ganze Areal saniert und strahlt die Erwartung einer besseren Zukunft aus.

Karl Wolffsohn war ein renommierter Filmkritiker der Weimarer Zeit. Nicht nur an Häuser und Wohnungen dachte der Bauherr deshalb, sondern auch an ein Kino. „Lichtburg“ hieß es, 2.000 Sitzplätze hatte es, direkt neben der Gartenstadt stand es. Der Gesundbrunnen war in den 20er-Jahren ein wenig auch Broadway in Berlin.

Aber schon 1933 wird Michael Wolffsohns Großvater von den Nazis in „Schutzhaft“ genommen. Aus dem Gefängnis kommt er mit der Auflage, innerhalb von 14 Tagen das Land zu verlassen und auf sein Vermögen zu verzichten. Er geht nach Israel, wird Kartenabreißer im Kino, Glaser, Diamantenschleifer. 1949 kehrt er nach Deutschland zurück. „Ich überlasse das Geraubte nicht den Räubern“, soll er gesagt haben. 13 Jahre braucht er, um einen Teil zurückzubekommen. Das Kino wird ihm vorenthalten. Obwohl denkmalgeschützt, wird es 1970 abgerissen.

Karls Enkel Michael wächst in den 50er-Jahren in Grunewald auf, macht 1965 am Walter-Rathenau-Gymnasium Abitur, beginnt an der Freien Universität zu studieren, erlebt die Schah-Demonstrationen, den Tod von Benno Ohnesorg. Er sympathisiert ein wenig mit den Studenten, erträgt jedoch deren Dogmatismus nicht und wählt dafür einen ganz anderen: Er meldet sich freiwillig zum Wehrdienst in der israelischen Armee. „Israel ist die Versicherung der Juden. Eine Versicherung gibt es nicht umsonst“, sagt er.

Er sei ein kläglicher Schwejk gewesen. Als Rekrut marschierte er durch Ramallah – „kurz nach der Eroberung, die damals noch Befreiung hieß“ – und fühlte sich erbärmlich. „Ich bin kein Pazifist, aber auch kein Militarist.“ Am Ende hat man ihn in die Schreibstube versetzt. Nach drei Jahren Militär kommt er 1970 nach Berlin zurück, studiert Geschichte an der FU. „Ich bin von der deutschen Kultur geprägt. Ein Waldspaziergang ist etwas anderes als ein Wüstenspaziergang.“

Jahrzehntelang versucht er danach, mit Veröffentlichungen Schwung in die deutsch-jüdische Aussöhnung zu bringen. Er wehrt sich gegen die Vererbung der Schuld, die die Deutschen im Nationalsozialismus auf sich geladen haben, ebenso wie die Vererbung des Märtyrertums der Juden. Er verlangt, dass die nachfolgenden Generationen stattdessen Verantwortung für die Geschichte übernehmen. Und er bescheinigt den meisten Deutschen, dass sie es tun.

Israel, innere Sicherheit, Antisemitismus, das sind die zeitgeschichtlichen Themen, zu denen sich Wolffsohn mal als Versöhner, mal als Provokateur, mal mit konservativer, mal progressiver Note äußert. Mit dieser Vielseitigkeit schafft er es, viele – ob links oder rechts, ob jüdisch oder nicht – gegen sich aufzubringen. Sein trotziges Credo dazu: „Ich lasse mich von niemandem instrumentalisieren.“

Wolffsohn will Austausch. Will Fairness. Will Hoffnung. Und er will, dass Gegensätze, die aufeinanderprallen, zu Diskussionen führen. Die können von ihm aus kontrovers sein. Was er auf gar keinen Fall will: Langeweile. All das scheint ihm nur in der Gartenstadt Atlantic zu gelingen. Hier wohnen Deutsche und Türken, Christen und Muslime, Palästinenserinnen und Jüdinnen nebeneinander. Letzteren hat Wolffsohn die Tür geöffnet.

So optimistisch der vielsprachige Weddinger Mikrokosmos stimmt, für Wolffsohn ist das zu wenig. Gut: Einem Kiez in einem der ärmsten Bezirke wieder Perspektiven geben, das ist schön. Den Status quo von ein paar Menschen stabilisieren, das ist schön. Aber sein innerstes Begehren zielt auf die deutsche Gesellschaft. Die ganze. Zwischen Wolffsohns Sendungsbewusstsein und der Wirkung seiner Worte klafft jedoch eine Lücke. „Was habe ich erreicht?“

Wer ihn in kleinen Gesprächen trifft, am Caféhaustisch, nicht bei solchen von tragender Bedeutung mit Macht-Granden, von denen er etliche kennt, der stolpert über resignative Töne. Die Bücher, die er schrieb, hätten nichts gebracht, sagt er. Die Kontroversen, die er mit persönlichem Einsatz und viel Leidenschaft öffentlich ausfocht – nichts wurde daraus gelernt. Dass er politische Positionen an ihrer menschlichen Wirkung im Alltag misst – nur wenige wollen die Bedeutung dieser Haltung erkennen. „Mein Lebenswerk, der Brückenbau zwischen Deutschen und Juden, ist so nicht zu verwirklichen.“

Schlimmer noch. „Keine Angst vor Deutschland“ heißt eines seiner Bücher. Und er meinte es. Aber mittlerweile hat sich auch bei ihm Furcht eingeschlichen. Seit den 80er-Jahren nimmt der Antisemitismus stetig zu, sagt der Historiker. 15 Prozent der Deutschen seien antisemitisch eingestellt, 5 Prozent bereit, diese Haltung mit Gewalt durchzusetzen. Er denkt ans Auswandern. Nach Amerika. Wie Mascha Kaléko. „Sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorzustellen – diese Souveränität habe ich nicht mehr“, sagt er.

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