: Eine Mischung aus Seifenoper und Politthriller
Moskau wird 850 Jahre alt und inszeniert sich selbst. Mit den Feierlichkeiten will vor allem Bürgermeister Juri Luschkow Rußlands Größe demonstrieren. Und sich als Nachfolger von Präsident Boris Jelzin empfehlen ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Am 6. Juli um 5.32 Uhr in der Frühe sollten die Sprengsätze detonieren. Die Attentäter überlegten es sich in letzter Minute anders. Menschenopfer wollten sie keine, denn auch am Sonntagmorgen flanierten Spaziergänger am Ufer der Moskwa entlang, wo sich seit kurzem eine Statue Peters I. fünfzig Meter in die Höhe reckt. Die nachsichtigen Gesinnungstäter gaben sich als Mitglieder einer Gruppe namens „Rote Arbeiter und Bauernarmee aus“.
Die Behörden kannten die neue Kampftruppe des Proletariats, die mit dem Denkmalsturz gegen eine Verlegung des Revolutionsführers Wladimir Lenin aus dem Mausoleum am Roten Platz auf einen Friedhof in St. Petersburg protestieren wollte, noch gar nicht. Der Plastiksprengsatz ließ auf Profis schließen.
Dieser Tage begeht Moskau sein 850jähriges Stadtjubiläum. Indes häufen sich im Vorfeld die Skandale und Skandälchen. Das Stadtfest verspricht eine nette Mischung aus Seifenoper, Drama und Politthriller zu werden. Das Denkmal Peters des Großen, mit dem eigentlich dem 300. Gründungstag der russischen Flotte gedacht werden sollte, erhitzt die Gemüter der Kunstliebhaber und der Intelligenz in Moskau schon bald ein Jahr. Fast wäre es noch in einem Referendum zur Disposition gestellt worden.
Selbst Kremlchef Boris Jelzin, bisher nicht gerade als tonangebender Kunstkritiker aufgefallen, muß beim ersten Augenschein geradezu entsetzt gewesen sein. Schöpfer Surab Zereteli, Moskaus bestallter Verschönerer, ließ sich vollkommen von der Freude am Detail davontragen: Schiffchen über Schiffchen, Kanönchen, Masten, Flaggen, Segel, Ruderspinnen und ein etwas kleinwüchsiger Zar Peter mit Schriftrolle in der Hand auf arg nach außen gekehrten Füßen.
Den Spitznamen hat er schon weg: Spielzeug-Reformator nennt ihn das aufgeklärte Moskau. Nicht grundlos, Kinder zieht er in Scharen an. So bleibt er stehen, aber wendet dem Moskauer Kreml den Rücken zu – wie der echte Peter, der einst mit St. Petersburg das Sinnbild eines reformbereiten Rußlands aus dem Sumpf errichten ließ.
Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow kann dem bauwütigen Zaren selbstverständlich nicht das Wasser reichen. Aber er gibt sein Bestes. Etwa fünfzehn Prozent aller Gebäude in der Innenstadt werden renoviert, um- oder gänzlich neugebaut. Darunter die Christus-Erlöser-Kathedrale, die den Sprengmeistern Stalins 1931 zum Opfer fiel, weil an ihrer Stelle ein Palast der Sowjets errichtet werden sollte. Totalitärer Größenwahn, dem die Wirklichkeit trotzte.
Das Projekt blieb Papier, aber Rußland hatte mit der geschleiften Kathedrale, die an den Sieg über Napoleon im Jahre 1812 erinnerte, ein weiteres sinnstiftendes Wahrzeichen verloren. Daran war dem Diktator vor allem gelegen, die Erinnerung an die Vergangenheit zu tilgen. Inzwischen allerdings überragen die goldstarrenden Kuppeln des wiedererrichteten Gotteshauses die Türme und Zinnen der weltlichen Macht im nahegelegenen Kreml.
Dem erzwungenen Vergessen begegnet Stadtvorsteher Luschkow, ein strammer großrussischer Nationalist, nun mit einer verordneten Anamnese, die ihrerseits an einer vollständigen Krankengeschichte kein Interesse zeigt: Das Stadtbild wird mit Denkmälern und Memorabilia geradezu verrammelt. Die redselige Redundanz verdeutlicht indes nur, welche Qualen Moskau und damit Rußland im Umgang mit der eigenen Geschichte peinigen.
Am Manegenplatz unmittelbar an der Kremlmauer wächst ein Einkaufszentrum aus dem Boden, das der Stadt einträgliche Renditen verschaffen soll. Die Geschäftswelt reißt sich nicht drum. Der städtische Mietzins bringt selbst Moskaus verschwendungsfreudige Superreiche aus der Fassung. Da hilft auch nicht das verniedlichende Ambiente aus historisierenden Balustraden, Arkaden, Springbrunnen und künstlichen Wasserläufen.
Peter der Große baute sich Anfang des 18. Jahrhunderts eine Residenz, die die europäischen Hauptstädte kopierte und – wie immer in Rußland – am Ende übertreffen und vor Neid erblassen lassen sollte. Er schuf immerhin eine Stadt. Der einzige russische Ort urbanen Charakters. Luschkow pflanzt nun seiner Metropole im nachhinein ein künstliches Herz ein, das genauso kräftig und laut schlagen soll wie Big Ben oder Notre Dame.
Moskau bewegte sich immer in der eigenen Illusion. Im 15. Jahrhundert reklamierte es die Nachfolge von Byzanz, indem es sich selbst zum „Dritten Rom“ erkor. Unser Jahrhundert erlebte es als ambitionierte Animateurin einer Weltrevolution. Unterdessen brannte die Stadt 1812 völlig ab, nur Kreml und Kirchen, weil aus Stein gebaut, überdauerten. Das russische, das hölzerne Moskau – dort, wo das Leben stattfand – war vom Erdboden getilgt.
Durch den Akt der freiwilligen Selbstverbrennung hat die Stadt sich und Rußland von den Okkupanten befreit. Moskau war gerade nicht der in Stein gefaßte aufgeklärte Absolutismus Europas jener Zeit oder ein Beispiel petrifizierter Wehrhaftigkeit. Es glich einem aufgetriebenen Dorf, wo die ländliche Lebensweise dominierte. Um ehrlich zu sein, bis in unsere Tage. Daran ändern auch Leuchtreklamen, McDonald's, Cerruti, Yves-Saint Laurent und Daimler Benz nichts.
Moskau verkörpert im Gegensatz zu St. Petersburg eher das Weibliche. Hier regiert der Verstand, das Rationale – dort wird sich zurechtgeputzt und kokettiert, behauptet zumindest der sich selbst beschreibende russische Mythos. Moskaus Baupräfekt Wladimir Resin gab denn auch auf Geheiß des Bürgermeisters, ohne dessen Bewilligung nicht einmal eine Mülltonne verrückt werden darf, die Stilrichtlinien vor: „Im Zentrum nur auf alte Weise, das Moderne an den Rand“.
Angst vor einer Amerikanisierung beraubt die Stadt jeglicher Chance, sich eine Innenstadt zu errichten, die das menschliche Maß wiederentdeckt. Die Ironie will es so: Das eklektische Amalgam am Manegenplatz und im vorgelagerten Alexandergarten, der an die Kremlmauern grenzt, alludiert nicht nur an den Inbegriff amerikanischer Amüsierästhetik. Es imitiert sie. Niedlich tumbe Bären aus Bronze, die sich von täuschend echten Wölfen das Fischen beibringen lassen. Vor Frohlocken hüpfende Fischchen aus der Werkstatt Surab Zeretelis. Ein Disneylandparadies für die Kleinen – unmittelbar neben dem Ewigen Feuer – der Gedenkstätte der Toten des Zweiten Weltkriegs.
Die einflußreiche politische Kaste des Finanzkapitals, der sich der Bürgermeister verbunden und verpflichtet fühlt, baut unterdessen in die Höhe. Vorbild sind die sieben Stalinhochhäuser der Nachkriegszeit, die die Skyline der Stadt beherrschen und dem Menschen das Gefühl vermitteln, ein Nichts zu sein. Sie waren ja auch nicht für ihn gebaut. Die Tokobank an der Uferstraße Krasnopresnenskaja etwa folgt dieser Herrschaftslogik, mildert sie aber in ein kubistisches Stilleben ab, mit Türmchen und Phalli bewehrt.
Die Architekten wildern im Arsenal der unerschöpflichen Postmoderne, obwohl Rußland sich unter Qualen gerade die Moderne aneignet. Meint das russische Großkapital es ernst mit der postmodernen Ironie? Liegt womöglich ein Mißverständnis vor? Wohl kaum. Seit Jahrhunderten greift Rußland westliche Einflüsse auf, vereinnahmt sie und führt doch etwas ganz anderes im Sinn.
Ein Phänomen, das den Flaneur aus Europa schon immer täuschte, wähnte und bewegte er sich doch in einer Umgebung, deren Zitate ihm vertraut waren. Erst der Blick hinter die Fassaden brachte ihn ins Grübeln... Juri Luschkow baut indes unverdrossen seine Vision der Geschichte.
Noch staunen die Moskauer. Die Straßen wurden befahrbar und sauber, der Verfall in die Hinterhöfe verbannt. In der Tat hat die einstmals graue und gesichtslose Metropole des Sozialismus nun ein lebendiges, gar fröhlicheres Antlitz erhalten. Stilistische Bedenken treiben selbstverständlich nur eine verständige Minderheit um. Die Mehrheit wird dankbar annehmen, was der Stadtvordere hinsetzt.
Bisher war es jedenfalls so, Filmkulisse hin oder her... Fürst Juri Dolgoruki, der „Langfinger“, gründete die Stadt als Wehrburg des Kiewer Reiches. Sein Zuname hielt die zweifelhaften Methoden der Landvermehrung für die Ewigkeit fest. Auch Luschkow strebt nach mehr. Sind die Feierlichkeiten vorüber, verwandelt sich die Filmkulisse in eine Wahlkampfbühne. Nach Boris Jelzin will der Bürgermeister in den Kreml einziehen.
All die niedlichen kleinen Spielzeuge, russischen Bären und das folkloristische Tingeltangel, hofft der gepriesene Hausherr, mögen ihm draußen im Lande Legitimation als der wahrhaft russischste aller Präsidentschaftskandidaten verschaffen. Moskaus Stadtbild gerinnt unterdessen zu einem Wahlprogramm. Ohnehin ist das 850. Jubiläum der Kapitale längst mehr als ein Stadtfest. Das Leitmotiv intoniert Rußlands Größe und Geltung.
Unerfreulicheren Details der jüngeren Geschichte, an denen es nicht mangelt, widmet das offizielle Jubiläumsprogramm denn auch keine Veranstaltung. Vor sechzig Jahren begannen unter Stalin die Moskauer Schauprozesse.
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