■ Zwei Brüder in den dreißiger Jahren. Beide zeigen sich labil. Der jüngere, Georg: schwermütig, vielleicht krank. Der ältere, Gerhart: ängstlich, so zu werden wie er. Panisch wehrt sich Gerhart – indem er sich für die Tötung seines Bruders im Namen der Rassengesetze des NS-Reichs engagiert Von Hans-Joachim Lang
: Weggeworfen wie ein angebissener Apfel

Vor 65 Jahren wurde Georg Mall, evangelischer Theologiestudent aus Schwäbisch Gmünd, wegen schwerer Depressionen in die Tübinger Psychiatrische Klinik gebracht. Nach sieben Jahren in der Heilanstalt Christophsbad wurde er auf briefliche Empfehlung seines Bruders, des Psychiaters Gerhart Mall, der „Euthanasie“-Politik der Nazis „zugeführt“. Georg Mall war eines von 10.654 Opfern allein in der württembergischen Vernichtungsanstalt Grafeneck.

Ein schmaler, aufgeschossener junger Mann, interessiert an Gott und der Welt, immatrikulierte sich zum Sommersemester 1931 an der Universität Tübingen: Georg Mall, 18 Jahre alt, Sohn des Missionars Daniel Mall und dessen Ehefrau Lydia geborene Müller. Im Evangelischen Stift, wo der Theologiestudent Quartier bezog, charakterisierte ihn sein unmittelbarer Vorgesetzter, Repetent Eichele, als einen „aufgeweckten Burschen mit vielseitigen Interessen“. Mit 17 war er schon mit dem Fahrrad in Genua gewesen, hin und zurück in zwei Wochen. Georgs vier Jahre älterer Bruder Gerhart schilderte ihn später als „immer fleißig, strebsam, musikliebend und mit Zeichentalent“. Kennzeichnend für ihn seien „große Beharrlichkeit und Ausdauer“. Seine Lehrer hätten ihn „als besten Schüler“ gelobt.

Als die Tübinger Universitätsverwaltung zwei Jahre darauf, im Sommer 1933, Georg Mall aufforderte, dringend seine Rückmeldeunterlagen abzugeben, stand es schon nicht mehr gut um den jungen Mann. Die Postkarte, die an ihn ins Evangelische Stift geschickt worden war, ging an den Absender zurück mit der Nachricht: „Georg Mall ist schon längere Zeit krank und wird sein Studium wohl kaum wieder aufnehmen können.“ Wer ihn persönlich antreffen wollte, hätte sich auf den Weg nach Göppingen machen müssen, wo er mittlerweile in der Heilanstalt Christophsbad sein Dasein fristete. Diagnose: Schizophrenie; die ärztliche Prognose: „wohl ungünstig“. Am 22. April 1933 war Georg Mall dort angekommen, „in Begleitung seines Bruders, eines fremden Herrn und einer jungen Dame“, wie das Anstaltsprotokoll vermerkte.

„Macht einen deutlich verschrobenen, fast gesperrten Eindruck“, trug der aufnehmende Arzt in die frisch angelegten Krankenakte, „er weiß über seine Geschwister nicht Bescheid“. Freilich galt diese Beobachtung nicht dem Patienten selber, sondern jenem Bruder, der den Kranken abgeliefert hatte. Die Notiz ist um so bemerkenswerter, als nur kurz zuvor – bei ähnlicher Gelegenheit in der Tübinger Universitätsnervenklinik – Georg Malls Bruder „bei seinem Besuche den Eindruck eines schizoid verschrobenen Psychopathen“ gemacht hatte.

Mit Psychopathie werden im allgemeinen seelische Erkrankungen jeglicher Art umschrieben. Ein Oberbegriff also, der nichts bedeutet als: irgendwie auffällig. Rückschlüsse auf eine manifeste Krankheit lassen die von den zwei Psychiatern in Tübingen und Göppingen flüchtig und ohne weitere Begründung hingeworfenen Schnelldiagnosen ohnehin nicht erkennen.

Gerhart Mall, Medizinstudent im 9. Semester, konnte nicht wissen, in welches diagnostische Vorurteilsraster er geraten war. Wohl konnte ihm aber bekannt sein, daß die führenden Eugeniker schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 zugunsten einer von ihnen so definierten „Volksgesundheit“ für rigide Eingriffe in die persönliche Sphäre plädierten. Einen Fall von Schizophrenie in der engsten Verwandtschaft zu haben, zumal wenn noch der Makel einer Erbkrankheit damit verbunden wurde: Wie sehr vermochte, vielleicht auch nur unbewußt, diese Konstellation einen Menschen wie Gerhart Mall zu beunruhigen – zumal ihm unter den damals geltenden Prämissen das gleiche Schicksal drohen konnte? Man wird also den Satz des Medizinstudenten Gerhart Mall wägen müssen, den der diagnostizierende Göppinger Psychiater als bemerkenswert notiert hat: „Er könne nicht verstehen, daß sein Bruder, ein so gescheiter Mensch, krank werden könne.“

Aus der allgemeinen Beunruhigung, die daraus spricht, wucherte in dem angehenden Mediziner, zumal im Zuge der verbreiteten Rassenhysterie, eine in höchstem Maße flirrende Angst. Da Gerhart Mall diese Furcht, aus welchen Gründen auch immer, psychisch offenbar nicht angemessen verarbeiten konnte, wehrte er sie ab, indem er sie verdrängte und schließlich von sich abspaltete. Geradezu programmatisch steht für diese im April 1933 erst in Umrissen erkennbare Entwicklung, daß dieser tief verunsicherte Student — nicht seine Eltern – seinen vier Jahre jüngeren Bruder in die Heilanstalt bringt. Und, als wäre er der Vormund, auf dem entsprechenden Formblatt quittiert: „Ich stimme der Aufnahme meines Bruders Georg Mall aus Gmünd in die Heilanstalt Christophsbad Göppingen unter Uebernahme der Kostenverpflichtung zu.“

Wohl nicht zufällig behandelte also Gerhart Mall das Schicksal seines Bruders zunehmend als seine eigene Angelegenheit. Wie sehr, läßt ein Brief erkennen, den er genau zwei Monate nach dessen Einlieferung an den Oberarzt in Christophsbad richtet. Er will wissen, ob es sich bei Georgs Krankheit „um eine Katatonie handelt“ oder ob die „Symptome heftig und wechselnd genug“ seien, daß „eine wesentliche Remission“ erwartet werden könne. Weiter fragt er, ob die beobachtete Schweigsamkeit bei Schizophrenen öfter vorkomme. Und er beendet seinen mit „Gerhart Mall, cand.med“ unterzeichneten Brief aus dieser scheinbar objektivierenden Warte mit einer „Frage allgemeinerer Natur“, quasi von Schüler zu Lehrer: „Hält man die Ursache der Schizophrenie für nur Stoffwechsel bedingt, oder liegt ein Teil der Symptome ähnlich wie bei den Neurosen in über- oder unterentwickelten Tendenzen im psychischen Überbau begründet?“

Der antwortende Oberarzt bescheinigt dem Fragesteller, daß alle Symptome des Bruders für eine Schizophrenie sprächen. Aber „um was es sich bei der schizophrenen Psychose handelt, ist heute noch nicht geklärt“. Er stehe „auf dem Standpunkt, dass es sich um eine Stoffwechselerkrankung handelt“. Befriedigend scheint diese Auskunft für den Medizinstudenten nicht ausgefallen zu sein, denn er stürzt sich fortan nur um so vehementer auf die ihm unerklärlichen Rätsel der menschlichen Psyche.

Besonders spektakulär war das Leben der Brüder bis dahin nicht verlaufen. Aus Indien war die Familie zu Beginn des Ersten Weltkriegs wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Damals war Gerhart fünf Jahre und Georg ein Jahr alt. Nach einer Zwischenstation im Badischen ließen sich die Malls in Schwäbisch Gmünd nieder, wo der Familienvater in einer pietistischen Familienerholungsstätte die Stelle eines Hausmeisters antreten konnte. Die Eltern wollten Gerhart wie Georg eine solide Schulausbildung ermöglichen und schickten sie nacheinander aufs städtische Realgymnasium. Während Gerhart nach der mittleren Reife den Beruf eines Ingenieurs anstrebte und vorerst zwei Jahre lang auf Bauplätzen und in Fabriken jobbte, sollte Georg Pfarrer werden.

Nach dem Besuch der kirchlichen Internate in Blaubeuren und Maulbronn hatte Georg Mall in Tübingen weiterhin ein behütetes Leben in einer Art klösterlicher Gemeinschaft vor sich. Rund 150 Theologen verbrachten im Stift einen streng reglementierten Alltag. Den Stiftlern hatten dieser beschränkte Horizont und die harte Disziplin freilich schon immer Schwierigkeiten gemacht. Sie drehten sich im Kern um dieselbe Weltferne, wie sie der aus der frömmlerischen Enge entflohene Graf Reinhardt schon 1793 beklagte: „Nichts was weltlich ist, was den Genuß des Lebens fühlbar, und feine runde Menschen machen könnte, darf sich dieser fürchterlichen Burg nähern.“

So wird es wohl auch Georg Mall empfunden haben, als er in seinem ersten Semester aus einer weinseligen Laune heraus ein paar Verse ins Gästebuch der Tübinger Nibelungen eintrug, eines Zweigs der evangelischen Studentenverbindung Wingolf, dem er am 20. Mai 1931 beigetreten war. Sie zählen auch zu den wenigen überlieferten Zeugnissen aus seiner eigenen Feder: „In dem Stifte hoch u. hehr / Ist das Leben hart und schwer / Darum ist es oft vonnöten, / Daß man außer Singen, Beten / Auch der Welt ins Antlitz schaut.“

Für die Stiftsrepetenten, die ihn wie auch die übrigen Stiftler jeweils am Semesterende zu beurteilen hatten, war der um Orientierung ringende Georg Mall schwer faßbar. Beständig wird in deren Zeugnissen seine durchschnittliche Begabung betont, ebenso die Vielseitigkeit seiner Interessen, die indes – so Repetent Eichele nach dem ersten Semester – „mehr in die Breite als in die Tiefe zu gehen“ schienen. Er arbeite dort, wo sein augenblickliches Interesse erregt werde, mokierte sich Eichele, und lasse „das Übrige gelassen auf sich beruhen“.

Georg Mall belegte in den drei ersten Semestern auch Seminare und Vorlesungen, die mit Theologie wenig bis gar nichts zu tun hatten. Bei Max Wundt und Theodor Häring erfuhr er die Grundzüge der Philosophiegeschichte, bei Hans Geiger ließ er sich auf die Experimentalphysik ein, zu Wilhelm Harms zog ihn ein Seminar über Zoologie für Mediziner und Naturwissenschaftler, und bei Oswald Kroh beschäftigte er sich mit der Psychologie der Reifezeit sowie der Allgemeinen Pädagogik. Für einen Stiftler war es nicht unüblich, zu Anfang des Studiums auch über den Tellerrand des Fachs zu blicken, doch fällt eine Neigung zur Medizin auf, die über ein allgemeines Interesse deutlich hinausgeht.

Auf Dauer blieb das auch in seiner näheren Umgebung nicht verborgen, schlug sich am Ende seines zweiten Semsters sogar in seinem Führungszeugnis im Stift nieder: „Durchschnittlich begabt und mannigfach interessiert (Medicin)“. Möglicherweise sollte eine einwöchige Reise zum Basler Missionsfest im Sommer 1932 helfen, die klare Linie zu finden, die sich im Belegbogen des vierten Semesters in der ausschließlichen Entscheidung für theologische Themen niederschlägt.

Mehr als ein paar Wochen hielt er diese Beschränkung allerdings nicht mehr durch. Im Herbst 1932 hatte er dann eine längere Unterredung mit Stiftsephorus Karl Fezer, über deren Inhalt er gegenüber seinem Kommilitonen Theo Braun andeutete, daß es um die Frage gegangen sei, ob er sein Studium unterbrechen dürfe. Diese Wendung hatte Braun stutzig gemacht: „Hier merkte ich zum ersten Mal, daß ihn eine innere Unruhe trieb.“

Braun war seinerzeit mit Georg Mall befreundet und als sein sogenannter Leibbursche in der Nibelungenverbindung so etwas wie ein kollegialer Mentor. Von ihm ist heute noch zu erfahren, wie gern sein Kommilitone Mall am Studentenleben und auch an einem engeren Stiftlerfreundeskreis teilgenommen habe. Braun: „An sich war er ein fröhlicher Geselle. Anfangs hat er als Fux gut mitgemacht, erst später war er auffallend zurückhaltend.“

In den Führungszeugnissen der Stiftsrepetenten sind noch ein paar allgemein gehaltene Charakterisierungen überliefert. Darin wird Mall als „nett und aufmerksam“ (Eichele) beschrieben; als einer, der sich „in einem Korsett immer freundlicher, aber korrekter Wohlerzogenheit“ bewege (Kübler) und eine „Tendenz zum flotten Studenten“ habe, dabei aber „etwas krampfhaft“ sei (Burger).

Unter der Ungelenkheit, die seine Umgebung an ihm registrierte, steckten freilich hermetisch abgeschottete, zunehmend destruktiv werdende Selbstzweifel. Vom Frühjahr 1932 an bekamen als erste seine Eltern die Auswirkungen zu spüren. Ihnen begann er damals – etwa in der Zeit, als er eine Vorlesung über die Psychologie der Reifezeit besuchte – schwerste Vorwürfe wegen angeblicher Erziehungsfehler zu machen: Sie hätten dazu beigetragen, daß er einen schlechten Charakter habe.

Am Ende spitzten sich seine Depressionen derart zu, daß er dazu ansetzte, in eine andere Welt zu stürzen. „Ich könnte das Leben wegwerfen wie einen angebissenen Apfel“, beschrieb er am 14. November 1932 seinen Zustand. Georg Mall war an diesem Tag von der Tübinger Hals-Nasen- Ohren-Klinik, wo er an der Nase operiert worden war, in die Nervenklinik überwiesen worden.

Dem untersuchenden Nervenarzt trat ein zwar „äußerlich geordneter“ Student gegenüber, doch unter dieser Fassade herrschte Chaos. Man spürt das noch aus den Stichworten, die sich der Arzt notiert hat: „Gefühlsverödung, keine Interessen mehr, alles gleichgültig. Veränderung der Beziehungen zur menschlichen Mitwelt. Große Menschenangst, fühlt sich ausgestoßen aus der Menschheit, sieht kein Ziel mehr vor sich, ambivalente Einstellung gegenüber allem, weiß nicht was er soll. Schwankt von einem Vorsatz zum entgegengesetzten, hat bei allem, was er tut, ein böses Gewissen.“ Von Sinnestäuschungen oder Wahnideen wurde der Patient nicht gequält, vielmehr erfaßte er klar, was in ihm vorging. „Stimmung depressiv, düster“, formulierte der Arzt über den Eindruck, den Georg Mall bei ihm hinterließ.

Mit welchen Auflagen er nach wenigen Tagen in die Obhut seiner Familie entlassen wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Ins Stift kehrte er jedenfalls nicht mehr zurück. Theo Braun hat ihn im folgenden Frühjahr noch einmal in dessen elterlicher Wohnung besucht. Eine anregende Unterhaltung sei aber nicht mehr zustande gekommen, sosehr er auch versucht habe, an gemeinsame Erlebnisse anzuknüpfen. „Er machte einen schwermütigen Eindruck und spielte schwermütige Weisen auf dem Harmonium.“ Es war das letzte Mal, daß Braun seinen Kommilitonen sah.

Malls Erkrankung sei bedauerlicherweise derart vorangeschritten, berichtete Ephorus Fezer am 10. April 1933 in seinem Bericht über das vorangegangene Winterhalbjahr an den Evangelischen Oberkirchenrat in Stuttgart, „daß nach dem Urteil der Klinik an eine Wiederaufnahme des Studiums in absehbarer Zeit nicht zu denken“ sei. Sein Platz im Stift wurde darum im Sommersemester 1933 anderweitig vergeben.

Georgs Bruder Gerhart hatte seinen ursprünglichen Berufswunsch längst wieder fallengelassen, in Gmünd das Abitur nachgeholt, statt Hochbau im Sommersemester 1929 in Tübingen das Medizinstudium begonnen und – die ärztliche Vorprüfung bestand er im Sommersemester 1931 – im Januar 1935 mit dem 1. Staatsexamen abgeschlossen. Unmittelbar danach absolvierte er an der Tübinger Universitätsnervenklinik ein achtmonatiges Praktikum. Am 1. Oktober 1935 übernahm ihn das Seminar für Pädagogik und Psychologie der Universität als außerordentlichen Assistenten. Hier wurde Prof. Oswald Kroh, Leiter der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, sein Doktorvater und Lehrmeister.

Wie Gerhart Mall später in einem Lebenslauf dankbar erwähnte, erfuhr er bei ihm „eine sehr gründliche Ausbildung in der Experimentalpsychologie, Typenpsychologie und Heerespsychologie, sowie in den modernen Forschungsgebieten der Rassenseelenkunde“. Seine Doktorarbeit („Der Phasenwandel im affektiven und emotionalen Erleben“) drehte sich um psychogalvanische Reflexphänomene. Dabei sollten Experimente mit einer Art von Lügendetektor dem emotionalen Erleben verschiedener Persönlichkeitstypen auf die Spur kommen.

Da Gerhart Mall für seine psychologischen Experimente Patienten der Nervenklinik als Versuchspersonen einsetzen durfte, lernte er dort auch zwei im Frühjahr 1936 nach Tübingen gekommene Psychiater kennen: Hermann Hoffmann, Nachfolger Robert Gaupps als Klinikdirektor, sowie Wilhelm Ederle, Oberarzt und einer der Pioniere der Insulinbehandlung bei Schizophrenie. Beide berichteten schon im selben Jahr auf der Jahrestagung der „Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater“ über Tübinger Erfahrungen mit der Insulinbehandlung.

Einvernehmen herrschte offenbar auch in diesem Kreis, daß es sich bei Schizophrenie um eine Erbkrankheit handele. Streng wie Juristen urteilten die Mediziner über ihre Patienten. Klinikdirektor Hoffmann jedenfalls insistierte: „Jede Behandlung einer Erbkrankheit ändert nur das phänotypische Bild, deshalb müssen auch evtl. durch Insulin geheilte Schizophrene ganz genau so der Unfruchtbarmachung zugeführt werden.“

Unmittelbar nach den Weihnachtsfeiertagen 1936, die Georg Mall bei seiner Familie in Gmünd verbringen durfte („Soll ganz nett gewesen sein“, vermerkt dazu der Krankenbericht), meldete sich Gerhart Mall schriftlich bei der Göppinger Anstaltsleitung: „Nachdem ich meinen Bruder zwei Tage beobachten konnte, möchte ich Sie fragen, ob Sie in Ihrer Heilanstalt schon die Insulintherapie verwenden. Wenn auch mein Bruder schon vier Jahre krank ist, würde ich doch meinen, dass man die Insulintherapie noch versuchen sollte, nachdem in der letzten Zeit so schöne Erfolge mit Insulin erzielt werden konnten.“

Postwendend kam aus der Göppinger Psychiatrie die Antwort, daß man über längere Zeit die angesprochene Therapie angewandt, sie inzwischen aber wieder aufgegeben habe. Sofern aber Professor Hoffmann zustimme, wolle man die Insulinschockbehandlung Georg Malls in der Tübinger Klinik nicht unterbinden. Gerhart Malls drängender Wunsch ging so in Erfüllung. Am 17. März 1937 teilte Hoffmann der Heilanstalt Christophsbad mit, daß Georg Mall ohne „nennenswerten Erfolg“ behandelt worden sei – „trotzdem der Pat. etwa 40 Schocks hatte“.

Vier Wochen darauf verzeichnet Georg Malls Krankenakte die Ankündigung, daß „noch ein letzter therapeutischer Versuch unternommen werden“ soll, den Patienten mit einer Cardiazolkur aus seiner Entrückung herauszureißen. Wieder scheitern die Mediziner. „Nach 14 Spritzen, die 14 Anfälle erzeugten (zuletzt mit 0,65 Card.) wird nunmehr die Kur wegen der vollständigen Aussichtslosigkeit zur Besserung endgültig abgebrochen.“

Allmählich nähern sich die Beschreibungen seines Krankheitszustandes solchen Zuständen, wie sie in jenen Jahren von enthemmten Medizinern als Beispiele für lebensunwertes Leben herangezogen wurden: „Restlos versandeter, schwieriger und verblödeter Schizophrener [...], lebt interesselos und gleichgültig in den Tag, ist noch nicht einmal zum Papierzerreißen zu verwenden.“ Oder: „Ist sehr unsauber, läppisch, unberechenbar.“ Und: „Näßt das Bett ein.“ Schließlich: „Liegt faul und schlacksig auf der Abteilung herum & arbeitet absolut nichts.“

Interessanterweise hat gerade der Tübinger Psychiater Konrad Ernst – wohl nicht nur durch die Mallsche Geschwisterkonstellation angestoßen – das Problem in einem 1939 erschienenen Aufsatz vertieft, mit dem Gerhart Mall, inzwischen selber Psychiater, hautnah konfrontiert war: „Man meint, die wenigen erbkranken Linien ließen sich leicht und klar abtrennen, und glaubt, man sei selbst von dem allen sicher völlig unberührt [...], bis plötzlich unter den Bekannten oder in der eigenen, scheinbar völlig gesunden Familie eine solche Krankheit ausbricht [...] oder man sogar einmal an der eigenen seelischen Ungebrochenheit und Gesundheit zu zweifeln beginnen muß.“

Gerhart Mall war nach seiner Medizinpromotion im Frühjahr 1938 nach Marburg gewechselt, wo ihn Prof. Ernst Kretschmer in der Psychiatrischen Klinik als Assistenten und bald darauf auch in sein Forschungsprojekt über chemische Wege der Konstitutionsforschung aufnahm. Dabei ging es um den chemischen Nachweis von psychischen Phänomenen, speziell um die Isolierung von Signalstoffen, von denen man sich zuverlässige Hilfen bei der medizinisch- psychiatrischen Diagnostik versprach.

Für Mall war dieses Projekt konsequente Fortsetzung seiner psychogalvanischen Experimente, zumal angenommen wurde, daß die dabei ermittelten Reaktionen nach Affektreizen analog zu chemischen Reaktionen ablaufen. Der mittlerweile 29jährige untersuchte hierfür Urin auf diverse Signalstoffe, immer der Frage nachgehend, ob diese Methode „das Verständnis der bisher atiologisch nicht geklärten Krankheitsgruppen der multiplen Sklerose, der Psychosen und Tumoren zu klären vermag“. Ganz dem Menschenbild der Zeit verhaftet, suchte er die Gründe für eine Psychose in physiologisch-chemischen Grundlagen – ohne jedoch in irgendeiner Weise zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs ordneten die Nationalsozialisten ihre wissenschaftlichen Forschungen fast ausschließlich kriegswichtigen Zielen unter. Sozialausgaben sollten einzig dem „gesunden Volkskörper“ gewidmet werden. Alles Unheilbare stand als lebensunwert zur Disposition. Auf Ermächtigung Hitlers setzte im Herbst 1939 SS-Standartenführer Philipp Bouhler unter der Chiffre „Aktion T4“ eine „Geheime Reichssache“ in Gang: den Vernichtungsfeldzug gegen die Patienten in psychiatrischen Einrichtungen, in dessen Verlauf bis zum Sommer 1941 über 70.000 Behinderte ermordet wurden.

Zentraler Tötungsort in Württemberg war Grafeneck. Die für die sogenannte Euthanasie selektierten Patienten aus den weiter entfernten Heil- und Pflegeanstalten wurden meist in näher gelegene Anstalten zwischenverlegt. Dieses mit teuflischer Perfektion praktizierte Verfahren bot den Bürokraten die Gewähr, daß die Opfer gewissermaßen auf Abruf in die Tötungsanstalten gebracht werden konnten. Wie man inzwischen weiß, sind aus diesen Zwischenanstalten Patienten auch entlassen worden – wenn ihre Angehörigen rasch und entschieden darauf beharrten.

Georg Mall wurde am 26. Juni 1940 mit 78 weiteren Patienten von Christophsbad nach Weissenau verlegt. Sofort schrieb die Mutter („Wir hoffen, daß er den Wechsel ordentlich ertragen hat und keine vermehrte Mühe macht“), daß sie die neue Umgebung ihres Sohnes kennenlernen wolle, und kündigte für die zweite Juliwoche ihren Besuch in Weissenau an.

Auch Gerhart Mall schrieb nach Weissenau. Über dessen Ansinnen berichtete der dortige Medizinalrat Dr. Weskott am 5. Oktober 1940 dem württembergischen Innenministerium: „Seine Bitte, seinen Bruder intra muros [innerhalb der Mauern; d. Red] der Heilanstalt Weißenau der Euthanasie zuzuführen, halte ich aus grundsätzlichen Erwägungen heraus für unerfüllbar. Sie erscheint mir aber auch überflüssig, wenn Dr. Mall durch das Innenministerium davon überzeugt würde, daß der übliche Weg, über den phantastische Gerüchte umgehen, nicht weniger ,anständig‘ – wie Dr. Mall sich ausdrückt – ist, als der von ihm vorgeschlagene.“

Am selben Tag richtete er an den „Sehr geehrten Herrn Berufskameraden“ diese Antwort: „Der Irrtum, den ich bei Ihnen im Spiel vermutete und der noch zu bestehen scheint, ist der, daß intra muros der Staatlichen Heilanstalten eine Euthanasie stattfände oder stattfinden dürfte. Ich habe heute unseren Briefwechsel dem Württ. Innenministerium zur Entscheidung vorgelegt und vermute, daß Sie von dort aus genauer informierende und Sie beruhigende und auch befriedigende Mitteilung bekommen werden.“

Die Reaktion aus Stuttgart ließ nicht lange auf sich warten. Der in Württemberg für die „Euthanasie“ zuständige Ministerialrat Eugen Stähle schrieb am 7. Oktober 1940 lapidar nach Weissenau: „Es ist Weiteres abzuwarten.“ Am 17. Januar 1941 teilte die Weissenauer Anstaltsleitung dem Innenministerium mit: „Pflegling Mall stand auf der Transportliste, die dem Erlaß Nr. X 5220 vom 2.12.1940 beilag und wurde dem Transport am 5.12.1940 mitgegeben. Der Erlaß vom 7.10.1940 Nr. X 4477 befindet sich bei den mitgegebenen Personalakten des Mall.“

Wie damals üblich, wurden die Spuren der Krankenmorde verwischt, indem die Angehörigen über Todesursache und den Sterbeort belogen wurden. Georg Mall starb nicht, wie den Eltern mitgeteilt wurde, in der Anstalt Hartheim. Der berüchtigte graue Bus, der am 5. Dezember 1940 in Weissenau vorfuhr, transportierte die Todeskandidaten nach Grafeneck. Von ihnen hat ein einziger überlebt, unter den anderen, die ins Gas getrieben wurden, starb auch Georg Mall. Nur wenige Tage später enthob das Innenministerium Grafeneck seiner Sonderbestimmung. Allein dort hatten Mediziner in elf Monaten 10.654 Patienten ermordet; die meisten Verantwortlichen konnten sich später der Justiz entziehen, wenige kamen mit – allerdings milden – Urteilen davon. Gegen Gerhart Mall, dem man Beihilfe zum Mord hätte vorwerfen können, wurde strafrechtlich nie ermittelt.

Wie sehr der Mediziner in der nationalsozialistischen Ideologie verstrickt war, läßt sich nur anhand von Indizien skizzieren. Mitglied in der NSDAP wurde er zum 1. Mai 1937, zu der Zeit, als er in Tübingen Assistent bei Oswald Kroh war, einem seinerzeit einflußreichen pädagogischen Psychologen, der es – laut Universitätshistoriker Uwe Dietrich Adam – verstanden hat, „die nationalsozialistischen Erziehungsideale ohne Skrupel und Hemmungen zu propagieren“.

Kroh, der vorwiegend völkische Anthropologie, völkische Erziehung sowie Rassenseelenkunde im Programm hatte, berichtet von einem „umfangreichen psychologischen Manuskript“ Malls aus jener Zeit, „das an Hand sorgfältiger Einzelanalysen ausgezeichneter Fälle seines Erfahrungsbereichs der wichtigen Frage nach den Quellen der seelischen Kraft nachging“, aber wegen kriegsbedinger Einschränkungen ungedruckt blieb.

Durch die Einberufung zur Wehrmacht wurden Malls Forschungen im April 1941 vorübergehend unterbrochen. Nach Gießen wurde er kommandiert – in die Nervenabteilung des dortigen Reservelazaretts. In seiner 1952 veröffentlichten Schrift über „Methoden und Grundlagen der Psychotherapie“ berichtete Gerhart Mall in dem Kapitel „Dressur und bedingte Reflexe“ über Erfahrungen, die er in dieser Zeit mit sogenannten Kriegshysterikern machte. Wie man dort erfährt, gehörte es damals zu seinen Aufgaben, in die (Nerven-)Krankheit geflohene Soldaten mit Hilfe von Elektroschocks wieder fronttauglich zu machen. Militärpsychologen mit solchen Tätigkeitsfeldern hatte Sigmund Freud schon nach dem Ersten Weltkrieg mit „Maschinengewehren hinter der Front“ verglichen.

Nebenher konnte Mall bequem „am Material meiner Klinik“ (so sein dortiger Chef Prof. Boening) seine konstitutionsbiologischen Forschungen fortsetzen und gelegentlich eines Vortrags in Marburg Ende Juni 1941 dem Dekan der Mediziner ankündigen, daß er sich jetzt habilitieren wolle. Daß er im Oktober des Jahres in die Gegend von Kalinin beordert wurde, bedeutet nur einen kurzfristigen Aufschub des Habilitationsvorhabens. Im Dezember 1941 wurde er „gezwungen“, wegen einer fieberhaften Polyneuritis in die Heimat zurückzukehren. Noch vom Krankenbett aus konnte er im selben Monat seinen Habilitationsantrag stellen. Am 4. März 1942 war das Habilitationsverfahren abgeschlossen, am 7. Juli erfolgte die Antrittsvorlesung und am 15. August die Ernennung zum Universitätsdozenten. Fortan arbeitete er wieder an der Marburger Nervenklinik, allerdings nicht in der Krankenbehandlung, sondern ausschließlich in einem Forschungsprojekt.

Am 1. Juni 1945 wurde Gerhart Mall von der Marburger Klinik als Assistent eingestellt, Ende Juli von den Amerikanern aus politischen Gründen entlassen, Anfang November wieder übernommen. Als Prof. Ernst Kretschmer im Frühjahr 1946 von Marburg nach Tübingen berufen wurde, folgte auch Mall seinem langjährigen Förderer. Hier bestellte ihn die Universität zum Dozenten und ernannte ihn am 22. April 1949 zum außerplanmäßigen Professor.

Von 1952 bis 1971 leitete er in Klingenmünster die Pfalzklinik, die zweitgrößte psychiatrische Einrichtung im süddeutschen Raum. Seminare an der Tübinger Universität („Berühmte Psychopathinnen“, „Eros und Neurosen als Wurzeln der Deutschen Romantik“, „Neurosen und Depressionen berühmter Frauen der Deutschen Romantik“, „Das Gesicht des psychisch Kranken“) hielt er bis zum Sommersemester 1970.

Nach seiner Pensionierung betrieb er bis zu seinem Tod am 7. Februar 1983 in Klingenmünster eine Privatpraxis.

Dank an die Institutionen, deren Quellen ausgewertet werden konnten: Archiv der Basler Mission, Bern; Bundesarchiv, Abt. Berlin-Zehlendorf; Bundesarchiv, Abt. Freiburg (Militärarchiv); Christophsbad Göppingen; Staatsarchiv Ludwigsburg; Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg; Hessisches Staatsarchiv Marburg; Staatsarchiv Sigmaringen; Landeskirchliches Archiv Stuttgart; Universitätsarchiv Tübingen; Archiv des Evangelischen Stifts Tübingen; Archiv der Evangelischen Studentenverbindung Wingolf Tübingen; Zentrum für Psychiatrie Weissenau