: Das Dallas am Ende der Müllkippe
■ Keine Botschaft, sondern ein Film: „Auf der Kippe“des Hamburger Regisseurs Andrei Schwartz wurde am Mittwoch in Amsterdam als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet
Dallas nennen die Bewohner ihre Siedlung – weil so viele Leute mitspielen und alle irgendwie verwandt sind. Das eine Dallas ist bekanntlich in den USA und zumindest in der Fernsehserie lebt es sich ziemlich gut von den Ölquellen; das andere Dallas liegt am Rande einer Müllkippe, die den Bewohnern zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben bietet. Fast ausnahmslos Roma leben in diesem anderen Dallas nahe der rumänischen Stadt Cluj (Klausenburg), das in dem Dokumentarfilm Auf der Kippe portraitiert wird.
Beinahe ein Jahr verbrachte der Filmmacher Andrei Schwartz, der 1955 in Rumänien geboren wurde und seit 1973 in Hamburg lebt, für die Dokumentation in Dallas. Anfangs begegneten ihm die Roma mit Mißtrauen, doch bald erklärte ihn die 67jährige Dica zu ihrem Adoptivsohn und die Kinder wichen kaum mehr von seiner Seite. Auf der Kippe ist der Besessenheit zu verdanken, mit der Schwartz sein Thema verfolgt hat, aber auch dem Durchhaltewillen der Produzenten Stefan Schubert und Ralph Schwingel sowie allen Beteiligten bei der Hamburger Wüste-Filmproduktion. Und das Durchhalten hat sich gelohnt: Vergangene Woche erlebte der Film auf dem Dokumentarfilm-Festival in Amsterdam seine Weltpremiere und errang den Joris Ivens Award, eine der höchsten Auszeichnungen, die einem Dokumentarfilm zuteil werden kann.
Für die Dallas-Bewohner hat sich seit dem Sturz Ceaucescus wenig verändert: Menschen sterben und werden geboren, die Schafe suchen im Müll nach Eßbarem, Papier und Aluminium werden gesammelt und weiterverkauft, auf der Kippe sind die Roma gerade geduldet und in der Stadt ohnehin keine gerngesehenen Gäste. Den Jahreszyklus, den Schwartz mit den Menschen dort 1995/96 durchlebte, hat er auf beeindruckende Weise aus beinahe 200 Stunden Filmmaterial auf Spielfilmlänge komprimiert. Von der Badezeremonie und Winterkälte über die katastrophale Sylvesterfeier bis zum sommerlichen Platzregen bleibt der Film stets den portraitierten Menschen treu. Anrührend, ohne Rührstück zu sein, menschlich, ohne zu predigen und mindestens genauso lustig wie traurig – „unvergeßliche intime Momente aus dem Zyklus von Leben und Tod“, wie die Jury in Amsterdam zu Recht befand.
Auf der Kippe ist im besten Sinne des Wortes engagiert. Schwartz braucht keine plakativen Slogans, um politisch zu sein. Er bleibt mit seinem Kameramann Gábor Medvigy, der faszinierende Bilder schuf, dicht bei den Menschen und vertraut auf die Intelligenz des Publikums, eigene Beobachtungen zu machen. So antwortete Schwartz dann auch auf Nachfragen in Amsterdam: „Ich habe keine Botschaft, ich habe einen Film“.
Dokumentarfilme sind inzwischen beklagenswerterweise zu einem Fernsehgenre geworden, doch im widergespiegelten Blick des Amsterdamer Publikums wird deutlich, warum auch Dokumentarfilme ins Kino gehören. Festivals in Petersburg, Los Angeles und São Paulo haben bereits ihr Interesse an Auf der Kippe angemeldet; bleibt zu hoffen, daß der Film auch in Hamburg bald auf der Leinwand zu sehen sein wird.
Malte Hagener
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