Shock! Horror! Sex Change!

■ Transsexualität bei den Lesbisch-Schwulen Filmtagen: Die Londoner Queer-Regisseurin Kristiene Clarke dreht Filme, in denen sie vehement für selbstbestimmte Identitäten plädiert. So werden interessante Perspektiven jenseits der gängigen Homo-Integrationspolitik aufgezeigt Von Jakob Michelsen

„Alle anders, alle gleich“ hieß eines der letzten Motti zum Christopher Street Day. Gegen den Strich gelesen sagt es viel über den Stand der sexual politics in den Industriestaaten: über das Auseinanderfallen festgefügter Kategorien, die Eingemeindung von bisher Ausgegrenztem, die Entstehung neuer Normierungen und das Weiterbestehen alter Grenzen unter neuem Namen. Davon handeln auch die Dokumentarfilme der Londoner Regisseurin Kristiene Clarke, die zur Zeit bei den Lesbisch-Schwulen Filmtagen zu Gast ist.

Clarke studierte Anglistik, absolvierte dann ein Film-Zusatzstudium und arbeitete als Aushilfe am Theater. 1987 drehte sie ihren ersten Film für den Fernsehsender Channel 4, eine Dokumentation über Transsexuelle mit dem Titel Sex Change, Shock! Horror! Probe! Anlaß war das Outing einer befreundeten Sängerin durch die Boulevardpresse. Nach einem Zwischenspiel bei der BBC ist Clarke zur Zeit wieder freie Mitarbeiterin bei Channel 4.

Im Zentrum von Sex Change, Shock! Horror! Probe! steht nicht die Operation, sondern das Leben davor und besonders danach. Clarke will zeigen, daß das Leben nach dem körperlichen Eingriff weiter- und der Konflikt mit der Umwelt erst richtig losgeht. Die unvermeidliche Auseinandersetzung mit dem Zwang, sich in eine von zwei Schubladen einzuordnen, führt zu unterschiedlichen Strategien der Interviewten. Einige bezeichnen sich stolz als Transsexuelle, andere als Intersexuelle, da sie den Wechsel zum angestrebten Geschlecht doch nie „richtig“ erreichen würden. Den meisten bedeutet es viel, in ihrer neuen Identität wahrgenommen und akzeptiert zu werden. So berichtet ein female-to-male davon, wie er in einem Herrenbekleidungsgeschäft zum ersten Mal mit „Sir“ angeredet wurde. Viele versuchen, ihre Geburtsurkunde zu ändern, was in Großbritannien – im Gegensatz zu anderen Ländern – praktisch unmöglich ist. Es geht dabei um mehr als nur ein „historisches“ Dokument. Die rechtliche Einstufung als Mann oder Frau hat Auswirkungen auf die Lebensplanung, etwa falls die Absicht besteht, zu heiraten. Denn wenn ein female-to-male mit Frauen schläft, weil er sich als heterosexueller Mann versteht, gelten seine Beziehungen offiziell als lesbische.

Die meisten Transsexuellen strebten keinen Zwischenstatus an, sondern wollten sich nach der Operation in der jeweiligen neuen Geschlechtsidentität assimilieren, so Clarke. Für sich selbst lehnt sie diese willkürlichen Kategorisierungen ab und fühlt sich einem Queer-Konzept verbunden, das die Zuschreibung fester Geschlechtsidentitäten hinterfragt. Sie fordert das Recht jeder und jedes Einzelnen, Selbstdefinitionen und Identitäten eigenständig zu bestimmen. Hierzu gehöre auch, daß die letzte Entscheidung über eine Operation zur Geschlechtsumwandlung nicht länger bei MedizinerInnen liegen dürfe, sondern bei den Menschen, die sie wünschten. Die Entscheidung für den Eingriff ist schließlich Bestandteil eines langen Entwicklungsprozesses und wird nicht leichtfertig getroffen. Ebenfalls abzulehnen sei die Auflage, vor der Operation längere Zeit in der gewünschten Geschlechtsrolle zu leben.

Auch in Deutschland ist dieser „Alltagstest“ ein Streitpunkt zwischen MedizinerInnen und Betroffenen in der Diskussion um „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“. Diese Tests zwingen Menschen stereotype Geschlechterrollen auf, die zudem der Lebensrealität nicht mehr entsprechen. Male-to-females etwa vorzuschreiben, Röcke statt Hosen zu tragen, entspricht, so Clarke, dem „Frauenbild der 50er Jahre“.

In zwei weiteren Reportagen widmet sie sich der gay and lesbian community. In Homo Economics aus dem Jahre 1994 geht es um die Entdeckung der Schwulen und Lesben als Wirtschaftsfaktor, eine Entwicklung, die in den USA und Großbritannien wesentlich weiter fortgeschritten ist als in Deutschland. Lesben und Schwule gelten vielen Marketing-Strategen als ideale KonsumentInnen: überdurchschnittlich hohe Einkommen, überdurchschnittlicher Bildungsgrad, konsumfreudig und markenbewußt. Das führte in den letzten Jahren zum einen zur Ausweitung schwuler und lesbischer AnbieterInnen von speziell zugeschnittenen Produkten und Dienstleistungen aller Art, vom Lifestyle-Magazin bis zur Versicherung. Zum anderen versuchen immer mehr „normale“ Firmen, eine homosexuelle Klientel zu locken. So wirbt IKEA mit einem Männerpaar, daß sein gemeinsames Wohnzimmer einrichtet – und natürlich dem Charme schwedischer Kiefernholztische verfällt. Clarke interviewte sowohl Geschäftsleute und PR-Manager, die oft neben dem finanziellen einen emanzipatorischen Mehrwert für sich in Anspruch nehmen, als auch KritikerInnen, die monieren, daß das hier vermittelte Bild vom wohlhabenden Konsum-Homo so nicht stimmt, für Frauen noch weniger als für Männer.

Village Voices, entstanden in den Jahren 95 und 96, ist ein Porträt der Gegend um die Canal Street in Manchester. Dieses viktorianische Altbauviertel ist ein San Francisco en miniature in einer ansonsten total provinziellen Stadt. Mittlerweile wird diese schwul-lesbische Enklave offiziell gefördert, und das Fremdenverkehrsbüro wirbt gezielt um entsprechende TouristInnen. Der Regisseurin war es wichtig, zwei Seiten zu zeigen: Einerseits ist die Sichtbarkeit, das Leben und Treiben außerhalb der heterosexuellen Normalität für viele eine befreiende Erfahrung. Selbstredend gibt es auch manche skurrile Szene, etwa den halbnackten Lederkerl, der sich beim Friseur die Brusthaare schneiden läßt. Andererseits führt auch hier die Annäherung an den Mainstream zu einem genormten gay lifestyle, der männlich dominiert ist und bestimmte Körperideale propagiert, die gar nicht so „anders“ sind. Im Film bringt es jemand auf den Punkt: „Looking good in the gay community means looking like anyone else.“ Gay life wird so zum Selbstzweck in einem selbstgeschaffenen Ghetto, in das auch die Heteros gerne zum Schwulegucken kommen. Clarke geht es darum, auch diejenigen zu zeigen, die unter dieser Entwicklung leiden, die nicht dem Bild vom „GUPPY“ (Gay Upwardly Mobile Young Man) entsprechen. Zum Beispiel Alte, Arme und Kranke. Auch viele Lesben fühlen sich von der männlichen Dominanz im village abgestoßen.

Kristiene Clarkes Filme zeigen Perspektiven jenseits der gängigen Homo-Integrationspolitik auf, sie gehören definitiv zu den Ereignissen der Filmtage.

„Sex Change, Shock! Horror! Probe!“ und „Pointing Percy Men's Room“: heute, 15 Uhr, Metropolis.