Die Vorschau: Poesie gegen die schwatzhafte Welt
■ Der spanische Dichter José Hierro liest am Freitag im Instituto Cervantes
Nach allem ist doch alles nichts gewesen,
doch es gab eine Zeit, da war es alles.
Und nach dem nichts, will sagen, nach dem allen,
begriff ich, daß alles nicht mehr war als nichts.
So beginnt ein Gedicht des Poeten José Hierro, das er schlicht mit „Leben“ überschreibt. Diese nüchterne, fast zynische Betrachtung von Biografie und Beziehung aus seinem neuesten Gedichtband „Cauderno de Nueva York“ ist typisch für den großen alten Mann der spanischen Poesie, der schon so viel erlebt hat, daß es ihm schon wieder wenig vorkommt.
Der 77jährige ist ein lebendiges Stück Dichter-Geschichte. Seit 50 Jahren prägt er sie und sie ihn. Nach dem spanischen Bürgerkrieg saß er fünf Jahre im Gefängnis. Hierro, dessen Nachname auf deutsch „Eisen“ bedeutet, begann zu Schreiben – verbissen, ja eisern, als hätten seine Eltern seinen Nachnamen mit Bedacht gewählt. In den bleiernen Jahren der Franco-Diktatur, die die spanischen Dichter die „dürftige Zeit“ nennen, war die Dichtkunst für viele die einzige Freiheit, eine Gelegenheit, sich auszudrücken. Hierro gehörte zu einem Kreis von Dichtern, die in der Poesie nicht nur eine Überlebensstrategie, sondern auch eine wirksame Waffe gegen die Diktatur sahen – eine naive Fehleinschätzung.
Diese Erfahrung bestärkte ihn, das Schnörkellose beim Schreiben zu verfolgen. Lange verschrieb er sich der vor allem von der Moral angetriebenen „poeta social“. Eine auch für einfache Leser zugängliche Schlichtheit er-schien ihm angemessener, um allgemeingültige Wahrheit in der Poesie darzustellen, als die ausufernde, üppige Sprachartistik vieler anderer spanischer Dichter.
Erst in den 60er Jahren wich sein moralischer Anspruch der reinen Suche nach der Präzision in Ausdruck und Form. Seine Dichtung sollte ein Kontrapunkt sein zur flatterhaften, ungenauen, schwatzhaften und verräterischen Welt, der er die Klarheit der Sprache entgegensetzte. Noch heute ist Hierro kein Freund großer Worte und aufgeblasener syntaktischer Strukturen. Er besticht durch Einfachheit. Mit dem Gedichtband „Cuaderno de Nueva York“ feierte er im letzten Jahr nach siebenjährigem Schweigen ein rasantes Comeback. Für sein Lebenswerk erhielt er in seiner Geburtsstadt Madrid die höchste spanische Literaturauszeichnung, den Cervantes-Preis – die lang verdiente Anerkennung eines Lebens für das Schreiben. Lars Reppesgaard
José Hierro liest heute, Freitag, um 20 Uhr im Instituto Cervantes. Aus der deutschen Übersetzung liest der Bremer Schauspieler Horst Breiter. Eintritt: neun (erm. sieben) Mark
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