: Die Geschorenen
Geschorene Frauen mit aufgemalten oder eingebrannten Hakenkreuzen auf der Stirn, teilweise oder völlig nackt, manche mit einem Säugling auf dem Arm, um sie herum Menschen, aus deren Gesichtern man Spott und Rache lesen kann. So hielt der Fotograf Robert Capa im Spätsommer 1945 die Demütigung französischer Frauen fest, die während des Krieges ein Liebesverhältnis, eine „horizontale Kollaboration“, mit einem deutschen Soldaten eingegangen waren.
Tausende von Französinnen wurden geschoren und öffentlich durch die Straßen getrieben, ein Dreivierteljahr später geschah Norwegerinnen und Däninnen dasselbe. Geschoren haben vorwiegend junge Männer, für die „diese Ausschreitungen nach fünf Jahren Besatzung und angstvollem Kuschen die erste Möglichkeit waren, gefahrlos über die Stränge zu schlagen, ihre Wut zu äußern, sich für ihre mannigfach erlebten Zurücksetzungen zu rächen, sich als handlungsfähig und potent zu erweisen“, schreibt die Frankfurter Kulturwissenschaftlerin Ebba D. Drolshagen.
Einige Frauen begingen nach diesem Akt der Demütigung Selbstmord. Nicht ein einziger Scherer wurde bestraft. Die jungen Frauen dagegen wurden mitunter behandelt wie Landsleute, die der Kollaboration, Schieberei, Denunziation oder des Landesverrats beschuldigt wurden. In Norwegen internierte man zwischen Mai und Winter 1945 drei- bis fünftausend Frauen. Offizielle Begründung: Sie könnten Geschlechtskrankheiten verbreiten.
Die Zahl der Paare in Frankreich, Holland, Belgien, Dänemark oder Norwegen kann nur geschätzt werden. Ein Anhaltspunkt ist die Zahl der Kinder aus diesen Verbindungen. Etwa 100.000 sollen es in Frankreich sein, 50.000 in Holland, 40.000 in Belgien, knapp 10.000 in Norwegen und gut 6.000 in Dänemark. Auf der britischen Kanalinsel Jersey verdoppelte sich während der Besatzung die Zahl der unehelichen Kinder, auf der Nachbarinsel Guernsey vervierfachte sie sich.
Diese halbdeutschen Kinder waren Hitler unterschiedlich willkommen. So stritten sich Deutsche und Norweger während der gesamten Besatzungszeit darum, wem die deutsch-norwegischen Kinder gehörten. Hitler plante, mit ihnen die „rassisch zurückgebliebenen süddeutschen Regionen aufzunorden“. Auch andere Kinder von deutschen Soldaten und „rassenreinen“ Nord- und Westeuropäerinnen waren ihm willkommen, jedoch „an Franzosen haben wir rassenpolitisch kein Interesse“, schrieb er. Oft kam es gar nicht soweit, viele Frauen trieben ab. Galten uneheliche Kinder zu dieser Zeit noch als große Schande, so bedeutete ein Kind von einem Besatzungssoldaten eine Katastrophe.
Andere zogen irgendwohin, wo man sie nicht kannte, gaben das Kind zur Adoption frei oder erfanden einen anderen Vater für ihr Kind. Niemand weiß, wie viele Abtreibungen es gab. Niemand weiß, wie viele Kinder es gibt. Eine viertel Million bis zwei Millionen wird geschätzt. Ihre Mütter sprechen nicht gern darüber. Bis heute werden Frauen, die mit deutschen Soldaten liiert waren, in Skandinavien Deutschenflittchen, in Frankreich Tondues, Geschorene, genannt. Diana Seiler
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