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Neun Menschen, elf Quadratmeter

Auf den Wagen mit euch, Zigeuner! In Ungarn werden Roma umquartiert – gegen den Widerstand von Intellektuellen

Frau Orosz wohnte bis zum 30. November in der Blumenstraße 33 in Monor bei Budapest als Besetzerin ohne Rechtstitel in einem 35 Quadratmeter großen, aus Ziegeln erbauten, zum Abriss freigegebenen Substandard-Haus, das sie mit ihrer Tochter, ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter, den beiden minderjährigen Kindern ihres Sohnes und weiter mit István Farkas, Frau Farkas und deren beiden minderjährigen Kindern teilte. Die Gemeindeverwaltung von Monor wollte sie alle schon am 26. Oktober auf die Straße setzen, doch damals scheiterte die Aktion am Widerstand der Roma-Bürgerrechtsstiftung und der anderen Armen aus dem Ort, denen ein ähnliches Schicksal droht. Die Gemeindeverwaltung lernte aus dem Flop und kaufte für teures Geld mehrere Zirkuswagen, als Ersatzquartiere. Passt es ihnen nicht, sollen sie doch auf der Straße wohnen. In diesem Fall würden ihnen, weil nach unseren humanistischen Gesetzen Minderjährige nicht auf die Straße setzbar sind, die Kinder beschlagnahmt werden.

Gegen den Räumungsbescheid können sie binnen 16 Tagen Berufung einlegen, doch aufschiebende Wirkung hat das keine. Und auch keinen Sinn. Das Grundstück hatte irgendeine deutsche Firma von der Gemeinde erworben, und bereits eine halbe Stunde nach der Ausquartierung der Bewohner trat am Haus die Abrissbirne in Aktion.

Vermummte und Ermittler

Auf Bitte der Roma-Bürgerrechtsstiftung fuhr am besagten Tag um sieben Uhr früh auch ich in die Blumenstraße in Monor. Eine Autobusladung Demonstranten war aus Budapest gekommen, weiter einige ähnlich engagierte Schreiberlinge und Intelligenzler wie ich sowie zwei Pfarrer, die zugleich Parlamentsabgeordnete sind, Gábor Iványi und Lászlo Donáth. Es erschienen außerdem zwei Dutzend Polizisten und maskierte junge Männer – unter dem schirmmützenartigen Strickstoff lugten lediglich Augen und Mund hervor. Woher sie in zwei Fahrzeugen mit überklebten Nummerntafeln kamen, kann man nicht wissen. Von dem einen rissen wir das Papier herunter, darunter befand sich das Kennzeichen GTE-201. (Falls mich nach dem Erscheinen dieses Artikels jemand verprügeln sollte, wird den verehrten Polizeiermittlern hoffentlich diese Autonummer in den Sinn kommen.)

Ein gedrungener Kerl, der den gegen die Räumung demonstrierenden Gábor Iványi beschuldigte, nur Aufsehen erregen zu wollen, verlangte wütend, dass wir ihm das Papier aushändigen sollten, auf dem wir das Autokennzeichen notiert hatten, doch der stämmige Fahrer des Demonstrantenbusses ließ ihn wissen, er könne ihn am Arsch lecken.

Zwei abgerissene, spindeldürre Männer schleppten das ärmliche Mobiliar aus dem Haus. Die zusammengelaufenen Roma protestierten, wehklagten, fluchten. Mit ihrem Zorn bestürmten sie vor allem eine Dame mittleren Alters, eine Ärztin und frühere Bürgermeisterin von Monor. Die Frau Doktor fertigte die Romafrauen, in der Mitte des Hofs stehend, mit einem hämischen Lächeln ab. „Warum duzen Sie sie?“, fragte ich sie. „Na, und wenn schon“, antwortete sie. Im Frühjahr werde es dann wohl Ersatzquartiere geben, teilte sie mit. „Warum werden die Leute dann nicht im Frühjahr ausquartiert?“, fragte ein bekannter Philosoph und Publizist. Anstatt einer Antwort ließ sie ihn wissen, dass sie ihn hoch schätze.

Wohnen ohne Waschbecken

Später fuhr ich mit dem Auto zu jenem Grundstück, wo der Zirkuswagen auf seine neuen Bewohner wartete. Er hat keine Heizung, keine Toiletten, kein Wasser. Weder Waschbecken noch Sparherd – alles hatte man herausmontiert. Dann besuchte ich einen bereits bewohnten Zirkuswagen. Ein arbeitsloser, kranker Mann lebt darin, zusammen mit seiner Frau und sieben Kindern. Auch hier keine Toilette und kein Wasser, doch immerhin funktioniert die Heizung, und sogar ein Becken ist da zum Abwaschen, wenn man Wasser holt. Neun Menschen, elf Quadratmeter. Dem einen Kind hat der Zug beide Beine abgetrennt. Ohne fremde Hilfe kann es den Wagen nicht erklimmen. Man zeigte mir, wo es schläft. Es braucht wirklich wenig Platz.

Ich muss ehrlich sagen, mir gefällt diese Zirkuswagen-Lösung. Ihr wart ein Nomadenvolk, wir wollten euch sesshaft machen, es ist nicht gelungen. Jetzt werden wir euch zwei Kleppergäule vorspannen, und dann könnt ihr auch schon aus unseren Siedlungen verschwinden, am besten so weit weg, wie das Auge reicht. Ein paar hundert Jahre rumpelt ihr zurück in die Vergangenheit, wir hingegen reißen die Häuser ab, in denen ihr gewohnt habt. Auf den Wagen mit euch, Zigeuner! ISTVÁN EÖRSI

Aus dem Ungarischen von Gregor MayerIstván Eörsi, 69 Jahre alt, ist Schriftsteller und Publizist und lebt in Budapest. 1989 gründete Eörsi die liberale Partei „Bund der Freien Demokraten“ mit, die heute in der Opposition ist. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Hiob und Heine“, Wieser Verlag, Klagenfurt 1999

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