: Säuberliches Dafür und Dagegen
Kurze Geschichte eines deutschen Lasters: der Distanzierung. Die Staatsmacht grenzte Gegner aus. Die Ausgegrenzten übernahmen diesen Mechanismus
von CHRISTIAN SEMLER
So lange es die Bundesrepublik Deutschland gibt, folgt jedem politischen Protest sein Schatten: der Zwang zur Distanzierung. Zur Zeit des Kalten Krieges hatte der Gewerkschafter von seinem kommunistischen Kollegen abzurücken, der Gegner der Atombombe tat gut daran, sich vom Friedensfreund mit östlichen Neigungen abzugrenzen. Damals funktionierte der Waschzwang, zu Zeiten der außerparlamentarischen Opposition in den 60er-Jahren wurde es schwieriger, ihn durchzusetzen. Aber der kategorische Imperativ der Distanzierung blieb.
Seit den ersten, überaus harmlosen Sitzblockaden auf der geheiligten Kreuzung Westberlins, am Kranzler-Eck, vernahm man seitens der Regierung wie seitens der Presse die immer gleiche Litanei: Distanziert euch! Liebe übergroße Mehrheit der Protestler, die ihr wohl erzogen, bienenfleißig und dem Gemeinwohl zugetan seid, sagt euch einfach los von der kleinen, radikalen Minderheit. Dann werden eure Forderungen offene Ohren finden. So die Botschaft. Erstaunlicherweise funktionierte sie lange nicht. „Wir sind eine kleine, radikale Minderheit“ avancierte, gerade bei Großdemonstrationen, zu einem Lieblingslogan der APO.
Warum? Warum klebten Linke aller Schattierungen, Liberale, Christen nicht zu vergessen, so zäh aneinander, warum ertrugen eine Reihe sanfter Professoren, ohne zu murren, die oft brachialen Aktionen auf dem Campus und später in der Innenstadt, statt sich der Fronde der Verteidiger von Recht und Ordnung, den Rettern der Wissenschaft anzuschließen? Sicher war Fürsorglichkeit im Spiel, das Bedürfnis, Bedrängte nicht allein zu lassen. Aber das entscheidende Motiv für die Weigerung, sich abzugrenzen, kam aus der Einsicht in eine verhängnisvolle Konstante der deutschen Geschichte.
Deutschland war schnell und spät zur Großmacht aufgestiegen, ebenso schnell erfolgte der Absturz bis zur schließlichen Katastrophe Nazideutschlands. Die Klassengegensätze und politischen Gegnerschaften hatten nie jene zivilisierte Form angenommen, die für die klassischen Demokratien des Westens charakteristisch war. In den Augen der deutschen politischen Elite galt der bewaffnete Arm der Staatsmacht als Inbegriff der Souveränität. Das Denken war vom Gewaltfetisch beherrscht. Der wurde im Tempel „staatliches Monopols der Gewaltausübung“ angebetet. Jeder Kratzer an diesem Gewaltmonopol, zum Beispiel durch rechtverletzende Aktionen des zivilen Ungehorsams, wurde deshalb als Ungeheuerlichkeit empfunden.
In den Demokratien des Westens existierte eine lange Übung, radikale Strömungen in die Gesellschaft einzubinden und, wenn möglich, schrittweise zu assimilieren. Weshalb beispielsweise die Kommunisten stets ins Kontinuum der radikalen Demokraten gestellt, in Frankreich etwa als Nachfahren der Sansculotten angesehen wurden.
Nicht so in Deutschland. Die innerstaatliche Feinderklärung zielte auf ein säuberliches Dafür oder Dagegen. Der politische Gegner musste aufgeben oder sah sich ausgegrenzt. Es war einfach politisch illegitim und moralisch unanständig, sich außerhalb einer bestimmten, engen Bandbreite von politischen Überzeugungen zu bewegen. Die Berufung auf die Normen des Grundgesetzes seitens der Machtelite war Schein. Denn die christlich-abendländischen Werte, die man als Fundament der Verfassung ansah, galten als jeder Rechtsnorm vorgelagert. Wer ihnen nicht genügte, wurde zum „Verfassungsfeind“, ein Terminus, der sich bezeichnenderweise im Grundgesetz nicht findet.
Je schärfer, je unangemessener die Staatsmacht auf die politischen Aktionen der Protestierenden reagierte, desto größer wurde die Gefahr, dass der Mechanismus der Ausgrenzung von ihren Opfern übernommen wurde. Statt die monströse Kriegserklärung der Machteliten ins Leere laufen zu lassen, sie der Lächerlichkeit preiszugeben, erklärte man postwendend ebenfalls den Krieg. Der politische Gegner wurde nicht mehr als Mensch respektiert, sondern auf seine Funktion als „Charaktermaske“ des Kapitals reduziert. Hinter dieser Maske aber verbarg sich nichts Achtenswertes mehr.
Zwischen den Gründern der RAF und vielen Aktivisten der APO, darunter keineswegs nur den linken Radikalen, existierte anfangs nicht der Abgrund, der heute gern beschworen wird. Soll, kann man sich „von unseren Leuten“ distanzieren und damit das Spiel der Mächtigen spielen? Letzten Endes war es die RAF selbst, die Selbstherrlichkeit, mit der sie Diskussionen über die Legitimität des Terrors verweigerte, ihre Methode, erpresserisch Solidarität zu erzwingen, die die Distanzierung zum einzigen Ausweg machte.
War das der ehern vorgezeichnete Weg? Ich fürchte, ja. Den radikalen Linken war eine andere Form der Distanzierung abhanden gekommen: die Fähigkeit, sich selbst in der Distanz zu sehen, ein richtiges Verhältnis zwischen „Engagement und Distanzierung“ zu finden, wie es der Soziologe Norbert Elias formulierte. Man sah sich innerhalb einer weltweiten revolutionären Bewegung, die überall und gleichzeitig die Welt überrollend, eine ununterbrochene Anspannung der Kräfte verlangte. Das war anstrengend, aber lustvoll. Ein Sieg der politischen Imagination über die realen Verhältnisse. Eine Pause? Auf keinen Fall! Undenkbar vor allem eine Denkpause. Gerade die aber wäre bitter nötig gewesen.
Soll man sich, vor allem als Person des öffentlichen Lebens, von den Elementen seiner eigenen Lebens öffentlich distanzieren, die dem heutigen Blick als verwerflich erscheinen? Entgegen der Auffassung, wonach die Biografie aus lauter unverbundenen Neuanfängen besteht, streben wir alle nach so etwas wie einer Ich-Identität im Lebenszyklus.
Deshalb ist es ganz unsinnig, sich im Sinn eines Reinigungsrituals von Teilen der eigenen Biografie einfach loszusagen. Wir sollen erklären, wie alles zusammenhängt, was fortwirkt, was überwunden wurde. Dazu bedarf es nicht der kniefälligen Distanzierung, sondern der Selbstdistanz. Auf sie hoffen wir weiterhin bei Fischer wie bei Trittin.
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