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Eine Wahrheit über die Siebzigerjahre

Die Rede ist von einem bundesdeutschen Jahrzehnt, dessen linke Opposition sich auf eine Politik des Körpers verlegte, damit scheiterte – und zum Mythos wurde. Bei vielen Kämpfern hat diese Zeit Narben hinterlassen, die gelegentlich sehr schmerzen. Wie gerade während der letzten Wochen, als unser Außenminister sich öffentlich für seine politischen Initiationen rechtfertigen musste. Eine Rückschau auf eine Zeit des brachialen und bedingungslosen Erfahrungshungers

von MICHAEL RUTSCHKY

Also, die Siebziger. Sie liegen in unermesslicher Ferne. Dass der Außenminister und Vizekanzler der gegenwärtigen Bundesregierung damals zu den aktiven Fightern zählte, kein bohrendes Fragen der Opposition wird den Abstand überbrücken und offenbaren, dass er noch derselbe sei; auch die Gegner im eigenen Lager, die ihn als Verräter sehen, der zugunsten der Karriere seine jugendlichen Ideale dahingegeben habe, kommen nicht weit.

Unser Abstand zu den Siebzigerjahren lehrt, was eigentlich jeder anhand seiner Erinnerungen weiß, dass nämlich die gelebte Zeit kein Kontinuum bildet. Risse und Schnitte gibt es darin und überraschende Vergegenwärtigungen.

Wer in den Siebzigerjahren seine Ideale verwirklichen wollte, hatte zwischen 1965 und 1970 seine Ausbildung abgeschlossen, war vielleicht 1961 in die SPD eingetreten und mühte sich nun an untergeordneter Stelle ab. Der weisungsgebundene Redakteur freute sich, wenn er in dem Fernsehmagazin einen Beitrag über das Elend der DrittenWelt platzieren konnte (für das wir verantwortlich seien); der Studienreferendar machte Bertolt Brecht und Max Frisch im Deutschunterricht, statt Werner Bergengruen und Gertrud von Le Fort, und versuchte das als Fortschritt einzuschätzen. Bald kamen ihm Schul- und Kultusverwaltungen zu Hilfe und gestalteten die Lehrpläne entsprechend um. Who the fuck is, fragen Sie zu Recht, Gertrud von Le Fort? Ich hätte auch noch Agnes Miegel und Börries von Münchhausen zu bieten, unsterbliche Meister deutscher Poesie.

Dies war der lange Marsch durch die Institutionen. Im Jahr 1975 betrat, wenn ich richtig erinnere, Frau von Bothmer, Bundestagsabgeordnete der SPD, das Hohe Haus in einem eleganten Hosenanzug, und ein gewisser Dr. Jaeger, Mitglied der CSU und Vizepräsident des Parlaments, erteilte ihr deswegen eine Rüge. Frauen tragen Kleid und Kostüm; anders zerstören sie die anschauliche Sittlichkeit, und das ist nicht bloß Werteverfall, sondern Anarchismus. Dr. Jaeger befürwortete übrigens auch die Todesstrafe für Schwerverbrechen. Lebte er noch, er müsste Frau Merkel allein wegen ihres Outfits für eine Geheimagentin des Kommunismus halten.

Aber diese Geschichten, wie sich die jungen Leute der Sechzigerjahre ins Erwachsenenleben hineinfanden und dabei seine Regeln und Formeln veränderten, fanden nicht auf der Hauptbühne der Siebzigerjahre statt. Dort tobte ein anderes Schauspiel. Eigentlich waren es drei.

Das erste lieferten jene Versprengten der Sechzigerjahre, der antiautoritären Revolte, die sich ihre Fortsetzung und ihren endgültigen Sieg als sozialistische Revolution des Proletariats vorstellen wollten, die von einer kommunistischen Partei des Lenin’schen Typs anzuleiten wäre. Dies war die skurrile Welt der K-Gruppen – uns liegt sie nicht näher als Werner Bergengruen oder Agnes Miegel. „Die Siege des sozialistischen Aufbaus in China, Albanien, Vietnam und Korea“, heißt es im Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands (Entwurf) von 1974, „sind das Ergebnis der fortdauernden politischen Macht der Arbeiterklasse. Die KPD wendet den Marxismus-Leninismus auf die Bedingungen des eigenen Landes an“.

Tja. Auf eine Hauptbühne der Siebzigerjahre gelangte diese Komödie der Verkleidungen aus vertrackten Gründen. Der revolutionäre Kämpfer war eigentlich Student der Germanistik oder Politik oder Geografie und wollte als solcher auf die Position des Beamten im Staatsdienst, als Gymnasiallehrer, keineswegs a priori verzichten. Unglücklicherweise traute der politische Apparat der BRD ihrem Schulapparat wenig zu.

In einem gefestigteren bürgerlichen Staatswesen wie Großbritannien hätte man die jungen Leute in die Regeln und Prozeduren dieses Apparates entlassen und ihm die fruchtbare Umformung der revolutionären Energie zugetraut – oder der Apparat hätte die revolutionäre Energie einfach erstickt. Wir dagegen bekamen den Radikalenerlass und die so genannten Berufsverbote.

Neulich habe ich auf Phoenix einer Bundestagsdebatte von 1975 zugeschaut; ein Abgeordneter der Opposition redete über die Gefährdung der inneren Sicherheit, aber es hätte auch BSE sein können. Die Anhänglichkeit, die sozial ausgekuppelte junge Leute plötzlich für eine imaginäre KPD entwickelten, schien sich einer Art Meinungsvirus zu verdanken, die eine von der CDU/CSU geführte Bundesregierung natürlich längst ausgerottet hätte, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Während diese kommunistische Kostümkomödie so gut wie vergessen ist, dominiert als zentrales Schauspiel der Siebzigerjahre: die Erinnerung an die RAF. Die K-Gruppen sind das Lächerliche, zu dem es vom Erhabenen nur ein Schritt ist. Die RAF hat den politischen Mord in der Bundesrepublik eingeführt – dass ihre Protagonisten sich dann selbst das Leben nahmen, stabilisierte dank der prekären Logik von Gabe und Gegengabe die Verhältnisse dahin gehend, dass die Geschichte aufhören und beide Parteien in die Mythologie eingehen konnten, Hanns Martin Schleyer ebenso wie Ulrike Meinhof. Im Rückblick erscheinen die Siebzigerjahre, sofern die RAF sie dominierte, als eine Schreckenszeit, aus der die BRD besser herauskam, um es so zu sagen, als sie hineinging.

Dabei lagen die Selbstbeschreibungen und Programme der RAF nahe beim Sprachgebrauch der kommunistischen Komödianten – man verstand sich ja als deren bewaffneter Arm. Man pflegte diese unerbittlichen geschichtsphilosophischen Ableitungen – Richard Herzinger hat neulich darauf hingewiesen, dass sie den völkischen, mit denen heute Horst Mahler der NPD zu dienen sucht, in ihrem eisigen wie bizarren Objektivismus aufs Haar gleichen.

Aber was das Drama der RAF so prägnant machte, war ihre Politik des Körpers, der politische Existenzialismus. Das begann mit den Körpern der Protagonisten: Sie waren verschwunden und wurden von Staats wegen gesucht. Sie verkleideten sich bis zur Unkenntlichkeit. Unerwartet konnten sie bei alten Freunden Unterkunft fordern; so machten sie die Wohnung der alten Freunde zum Exterritorium.

Aber sie bedrohten, wie gesagt, auch den Körper definierter Feinde mit Schrecken, Schmerz und Tod und waren bereit, ihre eigene Exterritorialisierung, im Jemen oder in Stammheim, in Kauf zu nehmen. Und am Ende komplettierten sie dies Projekt einer radikalen politischen Selbstverwirklichung durch ihre Selbstzerstörung.

Wer in den Fünfzigerjahren seine Augen aufmachte, stieß auf den Existenzialismus als eine Doktrin der französischen Linken. Dass er eigentlich drei Jahrzehnte älter war und der deutschen Rechten zur Verarbeitung ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg diente, habe ich erst später gelernt. Der dekadente Westen meint, Politik habe ihren Sitz in Gedanken und Argumenten; wir wissen es besser: Politik sitzt im Körper.

Die Unterscheidung von Freund und Feind, die laut Carl Schmitt 1932 den Begriff des Politischen ausmacht, ist eine „seinsmäßige“ und deshalb von höchster Intensität. „Denn zum Begriff des Feindes gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes“, und diese zu verwirklichen in jedem Augenblick und für den Rest ihres Lebens nahmen sich die RAF-Protagonisten vor.

Man kann auch Martin Heidegger bemühen, „das Vorlaufen zum Tode“, das, laut „Sein und Zeit“ (1926) das Leben erst authentisch mache und es von der Entfremdung im „Gerede“ des „Man“ befreie. Ich persönlich habe zu diesem Punkt viel von Ernst Jünger gelernt, „Über den Schmerz“, 1934. „Wenn man sich den Punkten nähert, an denen der Mensch sich dem Schmerze gewachsen und überlegen zeigt, so gewinnt man Zutritt zu den Quellen seiner Macht und zu dem Geheimnis, das sich hinter seiner Herrschaft verbirgt.“ Für die Katastrophen der Empfindsamkeit, wie sie die Siebzigerjahre erfüllten, kann diese Schrift einige Schlüsse bieten. Sogar noch für den Schmerz der unerträglichen Trennungsgeschichte, welchen die Röhl-Mädchen seitens ihrer Mutter erlitten; dieser Schmerz machte die Meinhof souverän.

Das dritte Schauspiel nun, welches die Siebzigerjahre so beschäftigte, bestritt die Szene, zu der Joseph Martin Fischer als junger Mensch gehörte und aus der er sein Vornamenskürzel bis in die Gegenwart herübergerettet hat: die Spontis und Autonomen, die Anarchos und Punks, der schwarze Block, dessen Kampfeslust sich heute noch bei versprengten Kadern findet, wenn Atomabfälle durch die Republik geschleust werden oder die NPD eine Kundgebung abhält.

Auch hier herrschte natürlich der Existenzialismus, kommt die Politik aus dem Körper. Und das ganz offen; in dieser Szene spottete man über die kommunistischen Komödianten und die antiimperialistischen Strategiepapiere der RAF. Und diese Körpernähe behielt die Community auch bei, als sie neue Themen besetzte, die Nachrüstung und die AKWs und die Umweltzerstörung, die sich am Körper unabweisbar zeigen sollte. Du bist dein Körper – und die kulturkonservativen Kader, die Achtundsechzig für den Hedonismus und Individualismus der Gegenwart beschimpfen, liegen vielleicht nicht völlig daneben. Ernst Jünger hatte bei der Schmerzvermeidung bloß das flaue Behagen der Bürger vor Augen. Man kann darüber auch richtig militant werden.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Und: „Das Ganze ist das Unwahre.“ Der Autor der beiden Sätze ist wohl bekannt; gleichzeitig haben sie längst den Charakter von (anonymen) Sprichworten angenommen, die ziemlich genau zum Ausdruck bringen, wie sich der politisierte Körper der Siebzigerjahre fühlte. Ohnmächtig, umstellt, sprachlos, und das nicht aus inneren Gründen, sondern sozusagen als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Situation. Wie das richtige Leben verstellt, das Ganze (der Gesellschaft) das Unwahre ist, jeder konnte es seinem Körpergefühl entnehmen.

Außerordentlich schwer zu erklären, wie solche politischen Körpergefühle entstehen. Dem damals herrschenden Bildungsmodell zufolge verdanken sie sich der Lektüre – aber dass die entsprechenden Kader Jünger oder Heidegger gelesen haben, kann man ausschließen; und Adornos Sätze verdanken sich philosophischer Reflexion (einer paraphrasiert Hegel): Sofern sie einen autobiografischen Gehalt haben, verweist er auf die Vierzigerjahre und das kalifornische Exil, denen die Siebzigerjahre in der BRD in nichts glichen.

Ich glaube auch nicht, dass sich der politisierte Körper der Lektüre marxistischer oder leninistischer oder trotzkistischer oder maoistischer Ableitungen und Traktate verdankte. Die Idee der Revolution, in der sie kulminierten, leuchtete dem ohnmächtigen, umstellten, sprachlosen Körper unmittelbar ein; die Beweisführung konnte man sich sparen. Vielleicht muss man den politischen Existenzialismus für eine anthropologische Möglichkeit halten, die jederzeit gegeben ist.

Jedenfalls wird so verständlicher, worum es den Fightern der Siebzigerjahre ging – in einem elementaren Sinn um Selbstbehauptung. Die Kämpfe mit der Polizei schienen zu beweisen, dass man auf diesem Wege tatsächlich ein minimales Stück Lebensraum erobern könne; „befreites Gebiet“ hieß das in Anlehnung an den Sprachgebrauch des Vietcong. Auch der Häuserkampf stand im Dienste dieser Körperpolitik, und dann, wie gesagt, kamen die Auseinandersetzungen um Nachrüstung und Atomkraftwerke und Umwelt, in denen der politisierte Körper in ganz andere Zusammenhänge hineinfand und neue Allianzen entstanden.

Ich fand immer die zwischen den Hausbesetzern und einem historisch gesonnenen Bürgertum besonders aufschlussreich: Diese Allianz verhinderte in Westberlin die Brutalsanierung und brachte die restaurierende Stadterneuerung in Mode. So werden am Ende die Hausbesetzer für den Wiederaufbau des Stadtschlosses mitverantwortlich sein ...

Über die Partei der Grünen wurde dieser ganze Motivstrang, von dem man in den Siebzigerjahren meinte, er sei exterritorial, in die politischen Apparate der Bundesrepublik eingefädelt, und deshalb kann ein ehemaliger Frankfurter Fighter ihr hoch geschätzter Außenminister und Vizekanzler sein.

Man kann diese Geschichte natürlich auch als die der taz erzählen, die sich zunächst als befreites Wortgebiet innerhalb einer strikt manipulativen und feindlichen Bewusstseinsindustrie verstand. Hier wäre auch ein Rückblick auf Michel Foucault als Cheftheoretiker erlaubt, der Reden, Wissen und Macht so eng verknüpfte, dass wirklich nur die Revolte des Körpers übrig blieb (die Foucault in die Darkrooms von San Francisco führte, wo er sich mit dem HIV-Virus infizierte: noch einmal Selbstverwirklichung als Selbstzerstörung).

Aber ich möchte auch noch was über die Polizei sagen. Sie verhielt sich – auftragsgemäß – in den Siebziger-, schon den Sechzigerjahren entschieden anders als heute. Von einer Gymnasiallehrerin, die eben fünfzig wurde, habe ich mir erzählen lassen, wie sie mal zufällig auf dem Kurfürstendamm in eine Demonstration hineingeriet und windelweich geschlagen wurde. Viele können so etwas erzählen. Während die zivilen Niederländer die Hausbesetzung unter gewissen Umständen legalisierten („kraken“), ließ sich der Westberliner Innensenator Lummer nach einer polizeilichen Räumung fotografieren, als wäre er Napoleon nach Austerlitz. Erst allmählich kamen Konzepte des Deeskalierens auf, und der Staatsapparat verstand – wenigstens zuweilen –, dass die wilde Selbstinszenierung von Jungrevolutionären noch keineswegs das Gewaltmonopol in Frage stellt und den Bürgerkrieg einleitet.

Hierfür gibt es schon seit längerem die größeren Erzählungen. Wie die BRD anfangs unter einem Konformitätsdruck stand, der schon Abweichungen von der Kleiderordnung ahndete, als werde der Gesellschaftsvertrag gekündigt und der Kampf aller gegen alle eingeleitet. Insbesondere der junge Mensch sollte brav sein und was Ordentliches lernen, auf ordentliche Manier – dass, wie fortgeschrittenen bürgerlichen Gesellschaften längst vertraut ist, der Bildungsprozess normalerweise über Widerstand und Negation verläuft, war noch unbekannt.

1978 veranstalteten konservative Intellektuelle einen Kongress unter der Parole „Mut zur Erziehung“, um den Konformitätsdruck als Idealzustand wieder zu Ehren zu bringen: Die RAF, überhaupt die Schrecken der Siebziger, schienen aus zu viel antiautoritärer Liberalität entstanden. Dieser Kongress schloss an einen an aus dem Jahre 1974, dessen Parole war „Tendenzwende“. Und auf diesen berief sich Dr. Helmut Kohl, als er mit seiner Wahl zum Bundeskanzler 1982 eine geistig-moralische Erneuerung einleiten wollte. Dass sie ausfiel, ist sein bleibendes Verdienst.

MICHAEL RUTSCHKY, 57, lebt als freier Autor in Berlin. Sein letztes Buch war „Lebensromane. Zehn Kapitel über das Phantasieren“ (Steidl Verlag, Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 Mark). Sein erstes Buch war „Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre“ (1980). Es ist nur noch antiquarisch erhältlich

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