: Drückende Verhältnisse im Knast
Stephan R. beging während eines Hafturlaubs Selbstmord. Zuvor sollen ihm Hafterleichterungen verwehrt worden sein, nachdem er ein sexuelles Verhältnis mit einer Justizbediensteten beendet hatte, klagt die Insassenvertretung der JVA Tegel
von PLUTONIA PLARRE
Er hatte zehn Jahre in der Justizvollzugsanstalt Tegel hinter Gittern gesessen. Fleißig und geduldig hatte er sich die Vollzugsleiter hinaufgearbeitet, an deren Ende bei guter Führung die vorzeitige Entlassung winkt. Auch Gefangenen wie Stephan R., die wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Die größte Wegstrecke hatte er hinter sich: 2004 sollte er freikommen. Zum Jahreswechsel hatte er Hafturlaub. Am 6. Januar wurde der Leichnam von Stephan R. auf der Ostseeinsel Fehmarn gefunden. Der 33-Jährige hatte seinem Leben selbst ein Ende gesetzt.
Über die Gründe des Suizids kann man nur spekulieren. Denn der Inhalt des Abschiedsbriefes, den R. hinterlassen hat, ist nie veröffentlicht worden. Auf der Knast-Homepage von Tegeler Gefangenen, www.planet-tegel.de wird vermutet, dass R. an der Gefängnispolitik und dem konsequenzenlosen Amtsmissbrauch von einigen BeamtInnen verzweifelt ist. Justizsprecher Karsten Ziegler dagegen bestreitet ganz entschieden, dass der Suizid im Zusammenhang mit Tegeler Vollzugsvorkommnissen steht. Dies hätten interne Befragungen ergeben. Der Abschiedsbrief befinde sich bei der Polizei. „Ich kenne den Inhalt auch nicht“, so Ziegler.
Nach Angaben des Tegeler Insassenvertreters Andreas Dietrich, der R. zehn Jahre kannte, hatte R. längere Zeit ein sexuelles Verhältnis mit einer Justizbediensteten im Knast. Vor zweieinhalb Jahren habe er diese Beziehung von sich aus beendet. Obwohl sich dieses Verhältnis nicht negativ auf die weitere Vollzugsgestaltung hätte auswirken dürfen, so Dietrich, sei R. wegen der Beziehung zu der Beamtin den Rest seiner Haftzeit schikaniert worden.
Gefangene, die mit dem Aufsichtspersonal intim werden, dürfen deshalb nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Der Beamtenschaft dagegen droht ein Straf- und Disziplinarverfahren wegen Unzucht mit Abhängigen. Der Tegler Anstaltsleiter Klaus Lange-Lehngut bestätigte auf Nachfrage ganz allgemein, sexuelle Kontakte mit Gefangenen hätten für die Beamten immer Konsequenzen. Zum konkreten Fall äußerte er sich nicht.
Insassenvertreter Dietrich verweist darauf, dass R. das Verhältnis zu der Beamtin beendet hat, als er von weiteren „Liebesbeziehungen“ der Frau zu zwei Gefangenen und drei Beamten erfuhr. R. sei mit diesem Wissen aber ausgesprochen diskret umgegangen. Kurz bevor seine Verlegung in den offenen Vollzug anstand, sei es in der Haftanstalt zum Eklat gekommen.
Wenn zutrifft, was der Insassenvertreter schreibt, dann muss es in Tegel fast so zugegangen sein wie im Freudenhaus. Erst seien der besagten Beamtin und einer weiteren Kollegin Verhältnisse zu Gefangenen nachgewiesen worden, im Zuge interner Ermittlungen seien dann vier weitere Beamtinnen „ins Raster“ geraten. „Alle beteiligten Frauen“, so Dietrich, seien lediglich versetzt worden. Zwei hätten freiwillig gekündigt.
Auch R. sei von den Ermittlungen betroffen gewesen. Die besagte Beamtin habe behauptet, er habe sie bedroht. Kolleginnen hätten sie bei der Verleumdung unterstützt. Auch bei der Vollzugsplankonferenz im Dezember 2000, bei der es um R.s Verlegung in den offenen Vollzug ging, sei die frühere Beziehung bestimmendes Thema gewesen. Von einer stellvertretenden Gruppenleiterin sei R. bedeutet worden, seine beanstandungsfreie Führung interessiere sie nicht. Er werde wieder „bei null anfangen“. „Man kann darüber spekulieren“, so Dietrich, „ob es diese Ankündigung gewesen ist, die Herrn R. psychisch so unter Druck gesetzt hat, dass er beschloss, sich dem Strafvollzug für immer zu entziehen.“
Dass R. sich im Vollzug beanstandungsfrei führte, eine Beziehung zu einer Beamtin hatte und das Verhältnis von selbst beendete, ist nach taz-Informationen Tatsache. Justizsprecher Ziegler bleibt trotzdem dabei: Es gebe keinen Zusammenhang zwischen Geschehnissen auf der Vollzugsebene und der Selbsttötung. Zur konkreten Vollzugsplanung könne er aus Rechtsgründen aber keine Angaben machen.
Was den Inhalt des Abschiedsbriefes angeht, herrscht inzwischen mehr Klarheit. Ein Oldenburger Kriminalbeamter von der Außenstelle Holstein, der den Suizid-Fall auf Fehmarn bearbeitet hatte, fasste den Tenor des Briefes gegenüber der taz mit den Worten zusammen: „Allgemeine Ausweglosigkeit und Depression, resultierend aus langjähriger Haft.“ So gesehen bestätigt der Brief die Vermutung der Tegeler Gefangenen, die auf ihrer Homepage schreiben: „Der Freitod von Stephan R. scheint nahe zu legen, dass langjährige Haftstrafen und der Strafvollzug an sich die Hoffnung auf ein selbst bestimmtes Leben in Freiheit nach dem Gefängnis zerstören können.“
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