: Die Entdeckung der Langsamkeit
Mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) durch die Uckermark: Eine Exkursion in Sachen Fahrradtourismus. Brandenburg ist velofreundlicher als sein Ruf, doch Defizite gibt es nach wie vor – in der Infrastruktur und im Bewusstsein
von HOLGER KLEMM
Gibt Greenpeace Pressekonferenzen auf der Hochsee im Schlauchboot vor einem Walfänger? Scharping seine Statements live im Kosovo? Nein. Aber der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) lockt die Journalisten ins wilde Brandenburg. Per Rad, versteht sich.
Treffpunkt ist um 9 Uhr 30 am Bahnsteig Berlin-Friedrichstraße. Es wird sehr langsam gefahren, heißt es in der Einladung. „Daher benötigen Sie keine besondere Kondition.“ Mit dem Regionalexpress RE3 nach Pinnow. Von dort 60 Kilometer mit dem Rad durch die Uckermark. „Pillepalle“ für Tanja Meyer-Rachner, die Tourenleiterin. Seit sie vor drei Jahren zum ADFC kam, kündigte sie ihr Abo beim Fitness-Studio. Dafür kommt 80 Prozent ihrer Freizeit im Club unter die Räder. Sie lacht dabei.
Ankunft in Pinnow. Benno Koch, Pressesprecher des Berliner ADFC, wirbt für eine Änderung der Perspektive: „Brandenburg ist bereits jetzt recht fahrradfreundlich – wesentlich besser als sein Ruf.“ Der Fußweg ist fürs Radfahren gut geeignet. Unterwegs sind 13 Radler, drei Frauen und zehn Männer. Die erste Etappe endet nach etwa 500 Metern am Amt Oder-Welse Pinnow.
Auftritt von Amtsdirektor Krause. Krause wollte ein Radwegenetz im Kreis bauen. Neun Millionen Mark Zuschuss waren im Gespräch. Die Vision scheiterte, weil sich der Kreis nicht durchringen konnte, eine Million als Eigenbeteiligung beizusteuern.
Es riecht, wie es auf dem Land so riecht. Die Sonne scheint, ein Pferd steht auf der Koppel. Hochspannungsmasten hier und dort – und ringsum Idylle. Weiterfahrt. Es fährt sich gut auf der glatten, ruhigen Straße.
Dann: Landwirtschaftsweg. Holprige Betonplatten, dazwischen ein schmaler Streifen Wiese. Es ruckelt. Weites Land. Die Äcker: ein Paradies für Maulwürfe. Von einem Misthaufen her weht süßlicher Wind. Junge braunweiß gescheckte Kühe betrachten von der Weide aus staunend die Radfahrer. Am Horizont stehen Silomastanlagen. Den Weg säumen Elektrozäune, Wellblechverschläge, Landwirtschaftstore. Planierte Müllhalden. Junge Bäume, die irgendwann später einmal Alleen werden sollen. Alles ist hier so, wie es war. Zeichen der vergangenen zehn Jahre sucht man fast vergeblich.
Während der kurzen Rast an der Fredersdorfer Kirche kommt ein LKW vorbei, hinter ihm eine lange dröhnende Autoschlange. Aufhänger für den ADFC, noch einmal die Notwendigkeit von Radwegen zu betonen. Sanfter Fahrradwahlkampf auf Brandenburgs Straßen. Und ein bisschen Mission. Hier haben die Apparate in den Telefonzellen noch Münzschlitze.
Die Architektur der Dörfer ähnelt der Mentalität ihrer Bewohner. Die Häuser ducken sich in die Landschaft, mit weit heruntergezogenem Dach, selten steht ein Giebel zur Straßenseite. Vorbei an windzerzausten Bäumen. Der schmale Sandstreifen zwischen mittelalterlichem Kopfsteinpflaster und Fußweg ist die einzig befahrbare Wegstelle. Wenn der Sand feucht ist, rollt es sich gut. Wehe, er ist trocken, dann beginnt das Rad zu schwimmen.
Fahrrad und Bahn sind gelegentlich Konkurrenten, gerade wenn es um die Finanzierung vermeintlich uneffektiver Mehrzweckwagen geht. Solche, in denen man reichlich Fahrräder transportieren kann. Gerade läuft ein Streit in Brandenburg, weil die Regionalbahnen dieses Angebot selbst finanzieren müssen, während in Berlin S- und Regionalbahnen kräftig bezuschusst werden. Die Pressefahrt ist von der Deutschen Bahn AG gesponsert. Auch sie scheint ein Interesse daran zu haben, Journalisten und ihre lesende, potenziell touristische Nachhut ins weite brandenburgische Land zu locken. Rund 500 Kilometer Bahnstrecke wurden in den vergangenen Jahren in Brandenburg stillgelegt.
Es ist trocken geblieben. Gramzow. Ein turmartiger, verschlissener Kornspeicher steht am Bahnhof, bis vor zwei Jahren war er noch in Betrieb. Daneben ein Museum besonderer Art. „Brandenburgisches Museum für Klein- und Privatbahnen“ steht schmiedeeisern über dem Tor. Der Ort ist an vielen Stellen marode. Mauern, Wege, Häuser verfallen. Aber offenbar stört es niemanden. Wer kommt hier schon vorbei? Anders auf dem Weg zwischen Kirche und Klosterruine, dem Touristenpfad des Ortes. Dort sind die Häuser hell verputzt, die Wege neu, die Straße frisch. Das ganze Kloster sei Architekten und Historikern ein großes Rätsel, berichtet der Stadtführer. Vom ehemaligen Anbau sind keinerlei Fundamente vorhanden, die aber da sein müssten. Bei Straßenarbeiten hat man extra tief gegraben – und nichts gefunden. Auch vom genauen Baustil her würden sich Experten fragen, wie das Gemäuer konstruiert gewesen sei. Heimatstolz lebt auf bei der Erzählung des Reiseführers über „die Perle der Uckermark“, wie er Gramzow tituliert. Schließlich wird der Ort so zu etwas ganz Besonderem. Und was hat er sonst schon zu bieten? Findlinge. Gramzow liegt an der Eiszeitstraße. Ein unaufgeregt schöner Flecken Erde. Es sind die Kleinigkeiten, die es ausmachen. Kleinigkeiten, die wahrnimmt, wer langsam fährt, sich Zeit nimmt und auch mal stehen bleibt.
Ziel ist das Hotel Huberhof in Seehausen, einem Dorf zwischen Ober- und Unterückersee mit Vertretern der Wirtschaft, Politik und Tourismus. Aus der moderaten Runde entspinnt sich schnell eine heiße Debatte. Ob der Kreis nicht eine Million Mark locker machen könne für Radwege, wenn er im Gegenzug neun dazu bekommt? Warum werden nicht alle Radwege gleich geteert? Ist der Anschluss an bestehende Radfernwege geplant, etwa zur Strecke Berlin – Usedom oder Berlin – Kopenhagen? Sei es nicht so, dass immer mehr Touristen mit dem Rad kämen beziehungsweise sich vor Ort Fahrräder ausliehen für Touren in die nähere Umgebung? Die Crew vom ADFC fragt kompetent, sachlich, mal verständnisvoll, mal hartnäckig. Es ist ihr Auftritt. Hier zeigen sie mit Worten, wofür sie stehen. Das „Erlebnis Radtour“ spricht für sich selbst.
Doch Seehausen bewegt andere Themen. In den vergangenen Jahren wurden Häfen gebaut, seit einem Jahr ist wieder eine Fähre unterwegs. Die Wege mögen ruhig „naturbelassen“ bleiben. Wichtiger sei die Förderung eines touristischen Grundverständnisses. Das rechtsradikale Image von Brandenburg hingegen spielt in den touristischen Überlegungen keine Rolle.
Rückfahrt im Zug, umsteigen in Angermünde. Es ist spät geworden, fast 23 Uhr. Eine Pressekonferenz, die sich wirklich einpresst. In Kopf und Hintern.
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