Zumutung mit Marx

Wie die PDS komplizierte Gesellschaftstheorie in einem Programmentwurf verpackt: 41 Seiten, nur am Stück verständlich

aus Berlin JENS KÖNIG

André Brie ist so etwas wie der quälerische Geist der PDS. Er hat die Gabe, nicht allzu oft zufrieden zu sein – weder mit sich noch mit seiner Partei, mit der Welt im Allgemeinen und Besonderen schon gar nicht. Man kann Brie diesen permanenten Gemütszustand ansehen. Er würde Angela Merkel im Wettbewerb um die schönsten hängenden Mundwinkel des Jahrzehnts locker schlagen.

An diesem Freitag in der Berliner Parteizentrale ist André Brie auch nicht zufrieden. Man könnte es vereinfacht so sagen: Seit zwei Wochen schreiben ihm die Medien zu gut über die PDS. Sie loben den vorsichtigen Annäherungskurs der PDS an die SPD. Sie bewerten die Entschuldigung für die Zwangsvereinigung von KPD und SPD positiv. Sie preisen den Entwurf für ein überarbeitetes Parteiprogramm schon vor dessen Veröffentlichung als einen Richtungswechsel der PDS. Sogar von einem zweiten Bad Godesberg ist die Rede.

Theorie der Missverständnisse

Eigentlich müsste sich die PDS, die nach dem Abgang ihrer Stars Gregor Gysi und Lothar Bisky ein paar Monate lang kaum zu sehen war, über so viel gute Presse freuen. Aber was macht André Brie? Er lässt die Mundwinkel hängen und zitiert Karl Kraus: Die Menschheit zerfalle in zwei Teile – die eine Hälfte würde sich missverständlich ausdrücken, und die andere Hälfte würde es nicht verstehen. Da lachen die Journalisten noch. Aber nicht mehr lange. Sie bekommen gleich danach ihr Fett weg. Die Vorabberichterstattung über das PDS-Programm bezeichnet Brie als Fastfood-Journalismus. „Dieser Programmentwurf ist eine Zumutung“, sagt er, „für die Mitglieder der PDS und für die Medien.“ Er sei eine Zumutung, schiebt er hinterher, weil er gelesen werden müsse, und zwar von vorne bis hinten, 41 eng beschriebene Seiten lang. Alles andere führe zu Fehleinschätzungen.

Zum Zeitpunkt dieser Abmahnung war die Veranstaltung im Karl-Liebknecht-Haus schon fast eine halbe Stunde alt, und unter den Journalisten machte sich ungläubiges Staunen breit. Das soll ein Richtungswechsel sein? Ein zweites Bad Godesberg? Kommt eine Partei so im Kapitalismus an?

Gabi Zimmer, die PDS-Chefin, hatte den Programmentwurf gleich zu Beginn der offiziellen Präsentation mit den Worten angekündigt, in ihm stecke „mehr Sozialismus drin und nicht weniger“. Sie hatte erklärt, dass das vorliegende Papier lediglich eine Überarbeitung des Programms von 1993 sei und keine Neufassung, und es spätestens 2003 verabschiedet werden solle. Sie hatte aber auch, wenngleich etwas umständlich, hervorgehoben, dass zum ersten Mal in der Geschichte der SED und ihrer Nachfolgepartei PDS Sozialismus mit individueller Freiheit verbunden werde.

Jetzt neu: Konsequenter Sozialismus

Neben Zimmer standen die drei Hauptautoren des Programmentwurfs: André Brie, der langjährige Wahlkampfchef und Vordenker der PDS, der heute im Europaparlament sitzt, sein Bruder Michael, Soziologieprofessor und Chef der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, sowie Dieter Klein, emeretierter Professor und so etwas wie der geistige Vater aller PDS-Reformer. Klein hat mit den beiden Brie-Brüdern schon zu DDR-Zeiten an alternativen Sozialismusmodellen gearbeitet. Ihr Ziel ist es, den Sozialismus mit dem bürgerlich-liberalen Erbe zu verbinden.

Dass die drei für einen konsequenten Reformkurs der Partei stehen, macht André Brie in seinem Statement im Anschluss an Gabi Zimmer deutlich. Da wird plötzlich ganz deutlich, worin das radikal Neue dieses Programmentwurfs besteht: In ihm werde erstmals konsequent ein libertärer Sozialismus verfochten, sagt André Brie. Das Individuum und seine politische Freiheit stünden im Mittelpunkt der Gesellschaftsvorstellung der PDS. Deutlich anders als im Programm von 1993 habe sich die PDS diesmal als sozialistische und antikapitalistische Partei definiert.

André Brie spricht davon, dass die Partei den Gedanken der sozialen Gleichheit, den Schröder und Blair so gründlich denunziert hätten, offensiv zurückgewinnen möchte. Diese Dialektik von einem libertären und modernen, egalitären Anspruch bilde den roten Faden des Entwurfs. Das schließe das Bekenntnis zum parlamentarischen System ebenso ein wie zu verschiedenen Eigentumsformen. Außerdem erkenne die Partei „Unternehmertum und betriebswirtschaftliches Gewinninteresse“ als wichtige Voraussetzungen einer effizienten Wirtschaft an.

Also doch Richtungswechsel, denken die Journalisten wieder und fragen nach: Akzeptiert die PDS damit die soziale Marktwirtschaft? Will sie mit der SPD regieren? Warum spricht sie dann laufend von Sozialismus? Den drei Intellektuellen neben der Parteichefin widerstrebt sichtlich, 41 Seiten komplizierte Gesellschaftstheorie auf Schlagworte zu reduzieren. Der Sozialismus sei viel älter als die DDR, antwortet Michael Brie. „Mit ihrem jetzigen Programmentwurf ist die PDS mehr bei Marx als alle sozialistischen Programme, die seit dem Kommunistischen Manifest geschrieben worden sind.“ Wieder Verwirrung. Das soll ein Bad Godesberg sein?