: Liliensiedler lieben Bretterhäuser
Jedem das seine und allen der Garten ist das Motto der Ökologischen Siedlung Lilienthal. Einen Müsli-Zwang gibt es nicht, aber Vorschriften für energiesparendes Wohnen. Wer für lockere Gemeinschaft viel übrig hat, ist hier genau richtig
Zwei Kinder flitzen auf ihren Fahrrädern kreuz und quer zwischen großen Holzhäusern herum. Ein kleiner Junge taucht zwischen zwei Blumenbeeten auf, schlendert über eine große Rasenfläche, ungehindert von Zäunen, die Gärten und Kinder in ihre Schranken wiesen. Der Verzicht auf klare Grundstücksgrenzen ist eine Besonderheit in der ökologischen Siedlung Lilienthal, von den Bewohnern „Liliensiedlung“ genannt.
40 Ein- und Mehrfamilienhäuser gruppieren sich um unterschiedlich gestaltete Innenhöfe. Jeder Hof ist von einem anderen Architekten entworfen und gebaut worden, so dass auch die Bauart der Häuser variiert, wobei Holz der vorherrschende Baustoff ist. Die Wand eines Hauses besteht zum größten Teil aus alten recyclten Fenstern, ein anderes ist blau gestrichen. „Wir wollen, dass sich jeder seine individuellen Wünsche erfüllen kann“, sagt Anneliese Sahr vom Verein „Lebensraum Lilienthal“ und eine der ersten BewohnerInnen der seit 1997 bestehenden Siedlung. Immer noch ist Platz für 30 Häuser. Deren Aussehen können zukünftige Eigenheimbesitzer selbst bestimmen. Die Vorraussetzungen: Die Fassade muss in das Konzept des für den ganzen Innenhof verantwortlichen Architekten passen und – ganz wichtig – das Haus muss den Kriterien eines Niedrigenergiehauses entsprechen. Das bedeutet, dass durch spezielle Wärmedämmung Wärme gespeichert und so Energie gespart wird. Außerdem dürfen nur baubiologisch verträgliche Materialien verwendet werden. Einige Häuser sind zudem mit einem Gründach ausgestattet, in das Regenwasser einsickern kann. Regenwasser wird auch für die Toilettenspülung benutzt.
Die Minimierung von Verkehr und Energieverbrauch sowie einen angemessenen Umgang mit Baumaterialien und Wasser hat sich der 1991 gegründete Verein auf die Fahnen geschrieben. Jeder, der in die Liliensiedlung ziehen möchte, muss die Vereinsstatuten unterschreiben.
Weitere Verpflichtungen zu einem naturgemäßen Leben gibt es nicht, sagt die Liliensiedlerin Sahr. „Einer legt mehr Wert auf eine ökologisch gesunde Ernährung, ein anderer möchte ganz ohne Auto leben.“ Wer allerdings seinen PKW aus dem Küchenfenster betrachten möchte, ist in der Liliensiedlung falsch. Viele Interessenten nähmen Abstand von Bauplänen, weil nicht alle direkt vor der Haustür parken können, erzählt Sahr.
Für sie selbst sei die Siedlung ideal, sagt die 69-jährige Pensionärin. „Als ich davon gehört habe, war mir sofort klar: Das ist das, was ich suche. Hier kommt man raus aus der Anonymität.“ Tatsächlich wirken die Bewohner wie eine eingeschworene Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt. Ältere Menschen sehen Kindern beim Spielen zu und halten nebenbei einen kleinen Schwatz mit deren Eltern. Hier scheint jeder sofort Anschluss zu finden, sei es für eine Wasserbombenschlacht oder ein Kaffeekränzchen auf einer der Sitzgruppen in der Sonne. Einmal in der Woche gibt es ein gemeinsames Essen, außerdem eine Literatur- und eine Trommelgruppe. „Wir wollen nachbarschaftliches Wohnen leben“, sagt Anneliese Sahr. „Wenn jemand krank ist, kümmert sich ein Nachbar um die nötigen Besorgungen.“ Auch bei der Kinderbetreuung unterstützen sich die Liliensiedler gegenseitig, sagt Sahr. „Die Kinder laufen hier in allen Häusern aus und ein und können überall klingeln, wenn sie ein Problem haben.“ Konflikte gebe es kaum, auch nicht zwischen Neuen und alteingesessenen Siedlern.
Nur einige Lilienthaler scheinen von der Errichtung der Ökosiedlung in ihrer Nachbarschaft nicht so begeistert zu sein. „Es ist schon vorgekommen, dass jemand ‚Scheiß-Ökos‘ auf die Straße geschrieben hat“, sagt Gundula Piltz, die Ende 1997 als erste Bewohnerin ihr Haus in der Siedlung bezog. „Wahrscheinlich waren das Kinder, die früher auf dem Baugrundstück gespielt haben“, vermutet ihre Mitstreiterin Sahr, „oder Menschen, denen einfach unsere Bretterhäuser fremd sind und die keinen Gefallen daran finden.“
Charlotte Gerling
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