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Land unter Meer

Ein Törn durch den schleswig-holsteinischen Teil des Nationalparks Wattenmeer zwischen Krabbenpulen und Segeln. Wo gerade noch das Meer war, geht man kurz darauf spazieren. Drei Tage schaukeln im Rhythmus der Gezeiten

VON BERND HANS MARTENS

„Das Schönste am Hafen ist die Ausfahrt“, sagt der Hafenmeister von Neufeld an der Niederelbe und bindet unsere Vorleine los. „Op un dol“ also. Maria zieht die Segel hoch. Der Jollenkreuzer schiebt bald leichte Lage am Wind.

Gleich rechts um die Ecke liegt der riesige Mündungstrichter der Elbe. Dort, abseits vom Hauptfahrwasser, beginnt der schleswig-holsteinische Teil des Nationalparks Wattenmeer. Ein Schlickdschungel, durchzogen von Rinnen und Prielen. Noch ist alles von der See zugedeckt. Sönke, „fümpf“ Jahre alt, hat schon genug Wasser gesehen und verschwindet unter Deck.

Die Ebbe zieht das Boot mit. Lange Stangen, die Pricken, weisen uns die Fahrrinne im Priel. Nach einigen Stunden ist nur die Küste nur noch zu erahnen. Ein dick aufgetragener Horizont, mehr nicht. Dann aber wandelt sich die Gegend. Wo eben noch gelbgrünes Wasser war, durchlöchern jetzt erste Schlickkuppen das Meer. Die See wirft Falten, so sieht es aus, und bleibt bald ganz weg. Längst haben wir die Segel geborgen. Ruder und Schwert sind hochgenommen. Der Jollenkreuzer „Ribundus“ liegt nun fest auf dem Wattboden. Von Bord aus sehen wir zu, wie sich die See verzieht. Immer weiter öffnet sich der Eingang zur Unterwasserwelt. Urlandschaftliche Schlick- und Sandgebilde, von Strömungslöchern durchzogen. Man muss nur warten können auf die Ebbe.

Wir springen von Bord. „Keiner kommt tiefer als bis auf den Grund“, ruft Maria. Auch den Spruch hat uns der Hafenmeister mit auf die Reise gegeben. Ein merkwürdiges Meer. Wo wir eben noch gesegelt sind, können wir nun spazieren gehen. Nordergründe, so heißt die Sandbank. Es ist ein widerborstiges Land unterm Meer. Mit dem letzten Wasser pumpen sich Quallen vorüber; schon aus der Form geraten, nähern sie sich ihrem Untergang durch Strandung. In einem Meer, das schon gleich nicht mehr da ist.

Nach etwa sechs Stunden kommt das Wasser zurück. Auf dem Sechsstundenland steht bald wieder die See. Priele und Rinnen sind nun zu Flüssen im Meer geworden. „Ribundus“ ist aufgeschwommen und zerrt an der Ankerleine. Bevor es dunkel wird, kontrolliere ich den Knoten der Ankerleine. Maria schreibt ins Logbuch: Wer jetzt noch kein Boot hat, der braucht es bald nicht mehr.

Drei Tage leben wir hier im Rhythmus der Gezeiten. Nach dem Mond also. Jeden Tag kommt die Flut eine Dreiviertelstunde später und dunkelt das Sechsstundenland ein. Kommt wieder Land in Sicht, laufen wir los: die Sandbank erkunden; wandern über schöne, vom Wasser modellierte Rippelmuster. Manche haben Fischformen. Oder wir gehen mit dem Kescher dem ablaufenden Wasser entgegen auf Krabbenjagd. Dann müssen alle mit ran zum Krabbenpulen. Denn nur der Proviant, der an Bord ist, ernährt die Mannschaft, sagt Maria.

Manchmal kommen Seehunde vorbeigeschwommen. Bis zu sieben Kilogramm Fisch täglich frisst so ein einziger Seehund, hat der Fischer gesagt. Und futterneidisch dreingeblickt. Aber die Natur würde das schon regeln. Er meinte das große Robbensterben vom Vorjahr.

Früh geht’s raus aus der Koje. Bordfrühstück à la Fisherman: Pellkartoffeln mit Krabben überhäufelt. Seewetterbericht gehört, Barometer abgeklopft. Anker auf. Irgendwo im Priel Neufahrwasser erreicht uns das Hochwasser. Fischkutter aus Büsum und Friedrichskoog sind unterwegs. Vor der Vogelschutzinsel Trischen überqueren wir eine Sandbank. Nun sind wir in der Süderpiep, es ist eins der tiefen Seegaten, die das Watt mit der See verbinden. Durch sie fließen alle sechs Stunden die Wassermassen ins Gezeitental der Nordsee und wieder zurück. Gewaltige Schlick- und Sandmengen werden dabei transportiert. Irgendwo wird immer etwas abgetragen, irgendwo anders angelandet.

Von der Vogelinsel kommt noch lange ein tausendfaches Gekreisch der Brandseeschwalben herüber. Jedes Jahr treffen sie sich hier zu dicht besiedelten Brutkolonien. Gegen Mittag haben wir die Ansteuerungstonne der Süderpiep erreicht. Nun sind wir am äußersten Rand des Wattenmeers. Vom Horizont umzingelt. Kurswechsel, südwärts jetzt. Später sehen wir die Container-Pötte wie riesige Blechschachteln durch die Außenelbe ziehen. An den Mahlsänden vorbei, es sind berüchtigte Schiffsfriedhöfe mit jahrhundertelanger Verweilzeit. Scharhörnriff, Großer Vogelsand. Hier liegt eine Armada von Schiffen. Von dem vor über dreißig Jahren gestrandeten Kaffeefrachter „Ondo“ sind noch Teile der Aufbauten zu sehen. Mit jedem Sturm wird der einstige Ozeanriese tiefer in den Mahlsand gezogen. Wir halten reichlich Abstand. Ein Wrack ist hier immer noch das zuverlässigste Seezeichen.

Bei halbem Wind überquert „Ribundus“ das Hauptfahrwasser. Wir nehmen Kurs auf die Insel Neuwerk. Wie ein verirrtes Stückchen Land liegt sie da. Endlich, sagt Sönke, gibt es wieder Eis und Menschen.

Die Insel ist auf dem Ringdeich in einer knappen Stunde umrundet. Ohne Kind, versteht sich. Wenige Häuser stehen hinterm Deich. Im Westen die Schule, im Osten ein Klärwerk. Aus dem Norden kommt der Wind und aus dem Süden die Tagesgäste. Es sind Wattwanderer und Pferdefuhrwerke, die bei Ebbe von der niedersächsischen Küste herüberkommen. Und bei Flut mit dem Fährschiff nach Cuxhaven zurückfahren. Sie alle treffen sich bei Otto, dem Kaufmann mit Gartenlokal unterhalb des Leuchtturms.

Im Nationalparkhaus treffen wir die Rangerin von Neuwerk. Ja, Aufklärung sei ihr Job, sagt Ute Albrecht-Rose. Sie informiert Besucher über die Salzwiesen- und Wattenlandschaft, die oft so rau daherkommt und so empfindlich ist. In der Schutzzone I bekommen Strandflieder, Salznelke und Andelgras, was sie zum Leben brauchen: Seewasser. Und die Austernfischer und Strandläufer ihre Brutruhe. Oder die Rangerin scheucht die Leute dort weg. Es kommt doch immer wieder vor, dass die Schutzregeln nicht eingehalten werden. Nur Einzelne sind es, die schlecht informiert sind, sagt die ehemalige Erzieherin. Immer mal wieder muss sie einen frisch gepflückten Strandfliederstrauß konfiszieren. Der wird im Büro des Nationalparkhauses zum Trocknen aufgehängt. Und ist zum Saisonende doch bedenklich angewachsen, sagt Ute Albrecht-Rose.

Bei Otto im Gartenlokal ist es ruhig geworden. Hochwasser also. Der Neuwerker Turm wurde vor siebenhundert Jahren als Schutzbau gegen Störtebecker und andere Piraten von Hamburger Reedern errichtet. Auch heute noch gehört die Insel zu Hamburg. Und so hat nun die Stadt ihren eigenen „Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer“. Die Kleinstaaterei kennt keine Grenzen. Doch den meisten der 46 Neuwerker ist das egal. Sie sind vor allem Inselbewohner.

Nur einmal sollten die Grenzen überschritten werden. Und das weiß hier noch jeder. Der Hamburger Senat beabsichtigte im Wattenmeer um die Insel Neuwerk, im schönsten Teil Hamburgs sozusagen, einen Tiefseehafen zu bauen. Für eine Idylle sei das Gebiet zu schade, hieß es aus Hamburg. Es gab Proteste, doch die Umsetzung der Pläne scheiterte an den gewaltigen Kosten, die dieses Projekt verursacht hätte.

Die Jollenkreuzer-Crew geht zum winzigen Inselhafen zurück. Der Hafenmeister ist schon da. Oder einer, der es vielleicht einmal werden könnte. Er schaut sich unser kleines Boot sehr interessiert an. „Liebe die See und bleib in der Schenke“, sagt der Mann.

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