Vorbote der Gefühle

Kino der Kindheit (3): In Kassel zeigte sich das Kino stolz auf seine Stadt und ahmte ihre Wasserspiele nach. Der Imitation war man auch sonst nicht abgeneigt

Mein erstes Kino hieß Kaskade, lag am Königsplatz in Kassel und hatte eine besondere Attraktion: Bevor der Hauptfilm begann, gab es Wasserspiele. Wasserspiele haben in Kassel Tradition, da sie ein Wahrzeichen des Bergparks Wilhelmshöhe sind. Diese Parkanlage, ihrerseits ein Wahrzeichen der Stadt, erstreckt sich vom Schloss Wilhelmshöhe in steter Steigung hinauf zum Oktagon des Herkules. Sie beherbergt ein Ensemble aus Teichen, Aquädukten und Kaskaden. Zu festgesetzter Stunde jagt das Wasser durch Rinnen und über Stufen, bis es in einen großen See vor dem Schloss mündet, um dann in einer mächtigen Fontäne aufzusteigen.

Das Kino Kaskade bot eine zwar reduzierte, dennoch beeindruckende Variante dieses Spektakels, sodass die Disneyklassiker, „Das Dschungelbuch“, „Aristocats“, „Bambi“ und „Robin Hood“, die ich dort in sonntäglichen Matineen sah, durch das Auf und Ab der Fontänen eingeleitet wurden. Die leuchteten in den tollsten Farben, in Gelb, in Grün, in Lila, Rot und Blau, begleitet von den erstaunten Rufen des Publikums. Und wer weiß, vielleicht war das Wasser, das vor der Leinwand emporstieg und in sich zusammensank, ein Vorbote der Tränen, die man während des Hauptfilms vergoss.

Ein paar Jahre später arbeitete ich gelegentlich in der Kaskade, da ein Freund, der als Vorführer für die Betreiberkette tätig war, Jobs vermittelte. Wenn an Silvester festliche Vorführungen von Zeichentrickfilmen stattfanden, schlüpften wir in die Kostüme der jeweiligen Filme (zum Beispiel in Mäusepelze, die denen in „Basil, der Mäusedetektiv“ glichen), schwitzten, reichten Sekt und rissen Karten ab. Gegen halb zwölf streiften wir die Plüschtierverkleidungen ab, stiegen in ein Taxi und kamen kurz vor Mitternacht im dörflichen Partykeller an. Bezahlt wurden wir zur Hälfte in Freikarten, die wir nutzten, um uns „The Rocky Horror Picture Show“ anzusehen, so oft uns der Sinn danach stand. Auch in diesem Film floss Wasser, da am Anfang ein heftiger Regenguss niederging; parallel dazu hantierten wir mit Wasserpistolen. Und auch diesen Film besuchten wir kostümiert, was mir frühe Crossdressing-Erfahrungen bescherte. Als Riff Raff gefiel ich mir gut, wenn ich auch darunter litt, die Figur zu verkörpern, die sich am Ende als Schurke entpuppte.

Viel später habe ich die Wasserspiele in einem Kreuzberger Programmkino in Berlin wiedergefunden. Das fsk am Oranienplatz hat im größeren seiner beide Säle ein aufblasbares Planschbecken aufgestellt. Jedes Mal, wenn die Werbung gelaufen ist, steigen drei oder vier Wasserstrahlen aus dem Becken auf, und auf sie fällt buntes Licht. Dazu ist ein Geräusch zu vernehmen, das an das Stottern eines Gartenschlauchs erinnert – an jenen Augenblick, in dem das ruhende Wasser von der Schubkraft des neu eintretenden Wassers gestört wird. Obwohl dieses bescheidene Wasserspiel schon seit Jahren ein Wahrzeichen des fsk ist, gibt es immer noch Besucher, die die Fontäne zum ersten Mal erleben und mit dementsprechend freudigem Erstaunen reagieren. Es gibt viele Gründe, warum das fsk heute zu meinen Lieblingskinos gehört, die Wasserfontäne ist sicher einer davon.

CRISTINA NORD