: Perestroika und Häkeldeckchen
■ Völkerverständigendes in der Sofaecke: 30 „Jugendliche“ aus der Sowjetunion in Bremen / „Many problems, normal people“: Landesjugendring organisierte „Familientag“ am Rande des offiziellen Besuchsprogramms: Einblick in Bremens gute Stuben
Am meisten beeindruckt hat sie das technische Kaufhaus Brinkmann. (Woraus sich zweierlei schließen läßt: Erstens bestimmen in der Sowjetunion Farbfernseher, Walkmen und CD -Spieler offensichtlich noch nicht das Alltagsbild von Straßen und Kaufhäusern. Zweitens hat die Zeit zwischen den offiziellen Delegationsterminen noch nicht zu einem Besuch bei Saturn-Hansa gelangt). 30 Jugendliche aus der Sowjetunion zu Gast in Bremen. Was ihnen sonst nach einer Woche so aufgefallen ist? Hm? Pause? Na vielleicht das viele Grün in der Stadt und der „very high technical standard of industry“. Rundherum also nur Positives. Daß Grün und „industry“ nicht immer gut zusammenpassen, hat sich in die Sowjetunion anscheinend so noch nicht rumgesprochen. „Wir brauchen mehr
und vor allem höher entwickelte Technik für mehr Umweltschutz! Of course, Tschernobyl was a very great problem, but now ist der ganze Kernkraftblock sicher konserviert. Zur Atomkraft gibt es auch bei uns keine Alternative.“
Eigentlich sind die jungen Russen (Jungsein ist - nebenbei bemerkt - in der Sowjetunion anscheinend keine Altersfrage, sondern eine der Berufsausbildung: Die drei Gäste des auch nicht mehr ganz taufrischen Bremer Landesjugendring -Funktionärs und Gastgebers, Peter van Well, würden hierzulande wohl eher als Zielgruppe eines Volkshochschulkurses „Wie bewältige ich die midlfe-crisis?“ durchgehen), also die drei hauptamtlichen Jugendlichen (der 1. stellvertretende Vorsitzende des Komsomol der Ukraine, der 1. Sekretär des
Komsomol in Ternopol und die Bildungsreferentin der kommunistischen Jugendorganisation der Krim) sind eigentlich nicht in die Bundesrepublik gekommen, um über „große politische Fragen zu diskutieren“. Vor allem wollen sie zeigen, daß sie „ganz normale Menschen sind, Jugendliche, wie es sie überall auf der Welt gibt.“
Ganz normal z.B.: Morgens gibts Frühsport rund ums Lidice -Haus, wo sie während des 14tägigen Bremen Besuchs untergebracht sind. Ganz normal auch: Eine öffentliche Diskussion zum Thema „Europa - unser gemeinsames Haus“ stieß auf sehr geringes Publikumsinteresse. Ganz normal schließlich: Überall auf der Welt gibt es anscheinend einen Hang zu deutscher Gemütlichkeit. Sonntag ist „Familientag“. In Dreiergruppen ist die Delegation zum Kaffeeklatsch mit
bundesrepublikanischem Familienanschluß auf Bremer Wohnzimmer verteilt worden. Besuch in den guten Stuben der Bremer „Jugend“.
Liebevoll hat Gastgeber und Friedenskämpfer Peter van Well für seine Gäste aus den Sowjetrepubliken und den Bremer Zeitungsredaktionen das bayerisch-blaue Seltmann -Sonntagsgeschirr auf dem Häkeldeckchen im Wohnzimmer drapiert, zu Plätzchen und Toblerone-Ecken gibt's palästinensischen Arak aus dem galiläischen Tamra, wo der Gastgeber auch schon Bremer Solidaritätsreisen-Deligierter war. Zuhause, unterm „Segelschiff im Sturm-Ölschinken“ gnickeln und kichern die sowjetischen Gäste verlegen wie Konfirmanden vorm Abfragen des Glaubensbekenntnisses. Fürs Foto (Querformat) rücken sie extra ein bißchen zu
sammen auf dem mit rotem Samt restaurierten Loriot -Biedermeiersofa. Hand auf die Schulter der deutschen Freunde: „Perestroika ist vor allem eine geistige Haltung.“
Also ganz normal: „We have many problems in the soviet union, very usual problems with flats, with children.“ Das Neue seit Gorbatschow: Es gibt ganz unterschiedliche Meinungen zu den Problemen und ihren Lösungen und vor allem
-man kann sie laut sagen. „Früher kannten wir nur schwarz und weiß in der politischen Diskussion. Jetzt gibt es
viele Grautöne.“
Sogar Punks gibt es in „very few“ Städten der UdSSR, Leute, die einfach nichts tun, obwohl es doch so viele wichtige gesellschaftliche Aufgaben gibt. Trotzdem: Solange sie sich an die bestehenden Gesetze halten - no problem. Wenn nicht: schon ein Problem, aber nicht für die staatlichen Jugendorganisationen, sondern für die Polizei.
Bevor sie in einer Woche nach Hause fahren, wollen die sowjetischen Gäste für ihre Angehörigen „bubble-gum“ und Kosmetika einkaufen.
K.S.
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