Zukunft der Gewerkschaften: Verdi muss verzichten!

Ein neuer sozialer Kompromiss muss kommen, aber der Verdi-Streik hat damit nichts zu tun. Er befördert nur die Vorurteile gegenüber den Leuten im öffentlichen Dienst.

Bild: dpa

Von UDO KNAPP

Mitten in der zweiten Corona-Welle, in der wir längst sind, kurz vorm nächsten Lockdown, ruft Verdi seine Mitglieder zum Streik. Die Gewerkschaft verlangt für die 2,4 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst 4,9 Prozent mehr Lohn und einen bundesweit einheitlichen Tarifvertrag. Die Tarifgemeinschaft Deutscher Länder, die öffentlichen Arbeitgeber jenseits des Bundes, hat sich bisher mit Hinweis auf die außergewöhnlichen Belastungen der öffentlichen Haushalte durch Corona-Hilfsmaßnahmen kategorisch geweigert, in den Tarifverhandlungen ein eigenes Angebot vorzulegen. Verdis Antwort darauf heißt Streik. Der wird jetzt im Nahverkehr, in den Kitas oder in Behörden durchgezogen.

Streik ist und bleibt das verbriefte Recht aller Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften. Streik ist die zivilisierte Form von Klassenkampf. Nur so war und ist es möglich, eine einigermaßen gerechte Vergütung für alle Arbeitnehmer durchzusetzen, den Sozialstaat zu befestigen und weiter zu entwickeln. Die breite Akzeptanz des Streiks als Kampfmittel der organisierten Arbeitnehmer in freien Gewerkschaften für soziale Gerechtigkeit ist ein zentraler Bestandteil der freiheitlichen, sozialen Demokratie. Die Gewerkschaften sind in dieser Rolle eben auch Wächter und Vorreiter im Kampf für Vertiefung und Erhaltung demokratischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten durch die Zivilisierung der sozialen Frage.

Diese Rolle im Rechtsstaat bedeutet allerdings auch ein hohes Maß an politischer und gesellschaftlicher Verantwortung. Diese staatstragende Rolle der Gewerkschaften ist durch rechtsfeste Mitbestimmungsrechte auf allen Ebenen des Arbeitslebens ausgestaltet. Nicht nur Verdi, sondern auch einige der übrigen Gewerkschaften haben sich allerdings in den letzten Jahrzehnten ihrer erfolgreichen Arbeit zu reinen Lohnmaschinen zurückentwickelt; ohne jede Beachtung des gesellschaftlichen Wandels und der aktuellen politischen Umstände. Am jüngsten Verdi-Streik wird das besonders deutlich.

Das Rückgrat unseres freiheitlichen Rechtsstaates

Die öffentlichen Arbeitgeber in der Bundesrepublik sind keine „bösartigen, hartherzigen und profitgierigen“ Arbeitgeber. Sie sind keine verselbständigten, populistischen und korrupten Politbürokraten, die den öffentlichen Dienst nach ihren Wünschen und ihren politischen Interessen missbrauchen. Der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik und alle seine Mitarbeiter in allen Facetten und Aufgaben sind das nach Recht und Gesetz weitgehend sinnvoll aufgestellte, hoch kompetent und rechtsfest handelnde Rückgrat unseres freiheitlichen Rechtsstaates.

Der gesamte öffentliche Dienst wird aus Steuergeldern über die öffentlichen Haushalte finanziert und von den Parlamenten kontrolliert. Die Entgelte im öffentlichen Dienst sind daher nicht frei verhandelbar, sie sind an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft gebunden. Jede Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst bedeutet entweder höhere Abgaben aller Steuerzahler oder den Qualitätsrückbau der öffentlichen Dienstleistungen. Es ist daher nur logisch, dass die Entgelte im öffentlichen Dienst in der Regel nicht so schnell steigen wie in der freien Wirtschaft. Ausgeglichen wird der dadurch entstehende Lohnabstand zur Wirtschaft durch die in der Regel lebenslange Arbeitsplatzsicherheit und eine zusätzliche, tief gestaffelte soziale Absicherung aller Mitarbeiter.

Die Verdi-Führung hat diese systemstabilisierende Rolle des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik offensichtlich aus dem Blick verloren. Die bisher erfolgreiche Bewältigung der Corona-Folgen ist vor allem ein Verdienst des auch für Krisen gut aufgestellten öffentlichen Dienstes. Das ist aber nichts Besonderes, dafür wird er von den Steuerzahlern unterhalten.

Strukturwandel im Arbeitsmarkt

Es ist die besondere Verantwortung und das Privileg der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, für die Allgemeinheit arbeiten zu dürfen. Das rechtfertigt die, relativ betrachtet, niedrigeren Entgelte. Eine 1.500 Euro-Prämie für besonders von der Corona-Krise belastete Mitarbeiter ist vor diesem Hintergrund rausgeworfenes Geld. Sie kann die zusätzliche Arbeitsbelastung durch Corona nicht ausgleichen, weckt falsche Erwartungen und verdeckt die Tatsache, dass das Arbeiten im öffentlichen Dienst gerade nicht nach den Maßstäben der Entlohnung in der freien Wirtschaft ausgeglichen werden kann und soll.

Plausibel wird das zusätzlich noch dadurch, dass in der freien Wirtschaft  heute und in Zukunft vermehrt Kurzarbeit und Massenkündigungen den Arbeitsalltag der Beschäftigten prägen werden. Unabhängig von Corona ist die große strukturelle Wende auf den Arbeitsmärkten in der Folge des ökologischen und digitalen Umbaus der Wirtschaft schon heute erkennbar. Auf dem weiten Feld des Aufbaus einer weitgehend kohlenstofffreien, digitalisierten Wirtschaft wird es für viele Jahrzehnte neue soziale Ungleichgewichte geben.

Diese erneuerte soziale Frage muss im Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um einen neuen sozialen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit von den Gewerkschaften kampfentschlossen gestellt werden. Dabei werden sich aber die Forderungen der Gewerkschaften eher an einer langfristigen sozialen Absicherung im Übergang denn an steigenden Lohnleistungen orientieren müssen.

Lohnkämpfe von vorgestern auf dem Rücken der Bürger

Im Prozess des gesellschaftlichen Lebens unter ökologischen und digitalen Vorzeichen wachsen auch die staatlichen Aufgaben. In der ökologischen Zukunft der Gesellschaft werden im öffentlichen Dienst viel mehr hoch kompetente Mitarbeiter gebraucht werden als heute. Es ist naiv, zu glauben, dass diese Mitarbeiter mit der Wirtschaft vergleichbaren Entgelten gewonnen werden können. Auch hier wird es primär statussichernde, sozial absichernde aber in der Höhe niedrigere Entlohnungsmodelle geben müssen.

Der aktuelle Streik hat mit den Fragestellungen zukünftiger Gesellschaftswerdung und einer Bearbeitung der erneuerten sozialen Frage im 21. Jahrhundert nichts zu tun. Dieser Streik befördert nur die Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, die sich sogar in einer Pandemie nicht zu blöd zu sein scheinen, Lohnkämpfe von vorgestern auf dem Rücken aller Bürger auszutragen.

Der Corona-Situation angemessen wäre es, wenn Verdi aus Solidarität mit allen Arbeitnehmern der freien Wirtschaft auf jede generelle Lohnerhöhung verzichtete und die geltende Tarifverträge einfach verlängert würden. Ein solcher Schritt würde die Staatsverdrossenheit vieler Bürger mildern und das Zusammenstehen in der Corona-Krise erleichtern. In diesem Fall muss man also sogar hoffen, dass die Arbeitgeber an ihrer konsequenten Weigerung festhalten, überhaupt zu verhandeln.

UDO KNAPP ist Politologe und lebt in Berlin.

.
.