: Wie tief geht die Freundschaft?
■ 30 Jahre deutsch-französische Zusammenarbeit haben Städtepartnerschaften, Gespräche und eine gemeinsame EG-Arbeit bewirkt/ Die Vorurteile sind geblieben
Berlin (taz) – „Für die beiden Nachbarvölker ist nichts wichtiger, als sich zu kennen. Irrtümer können hier die blutigsten Folgen haben“, warnte Heinrich Heine 1844. Es floß noch viel Blut, bis Franzosen und Deutsche diesen Rat beherzigten und institutionalisierten: Im Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit vom 22.Januar 1963 verpflichteten de Gaulle und Adenauer ihre Regierungen zu regem Reiseverkehr, um die historische Rivalität endgültig in „Solidarität“ und „Sicherheit“ umzuwandeln.
Seit heute genau 30 Jahren treffen sich die Staats- und Regierungschefs pro Jahr mindestens zweimal, die Außenminister viermal, deren Mitarbeiter sogar zwölfmal, „um bestehende Probleme zu erörtern“ und „alle wichtigen Fragen“ in Sachen Außenpolitik zu besprechen. Auch Verteidigungsministern, Heerführern, Bildungs-, Jugend- und Sportministern diktiert der Vertrag den Fahrplan zwischen Paris und Bonn. Als „Ziel der beiden Völker“ nennt er ausdrücklich das „vereinte Europa“.
In den vergangenen Jahrzehnten war die bilaterale Kooperation zweifellos Motor der europäischen Einigung. Doch der Mauerfall stellte die eingespielte Beziehung vor neue Aufgaben. Zuvor hatte die Rollenverteilung für ein Gleichgewicht gesorgt: Deutschland war der wirtschaftliche Riese, Frankreich verstand sich als politische Großmacht. Auf die neue Normalität haben sich die beiden Staaten noch nicht eingestellt, eine gemeinsame Außenpolitik bislang nicht definieren können, wie die Spannungen in der Jugoslawien- Politik gezeigt haben. Dennoch bilden die deutsch-französischen Beziehungen heute einen der stabilsten Pole in Europa. Es entspreche ganz der Absicht des Vertrags, „daß Franzosen und Deutsche in dem drohenden Debakel der EG beabsichtigen, um sich herum einen harten Kern zu bilden, der in der Lage ist, gegen Wind und Wetter auf dem Weg der Union voranzuschreiten“, meint Daniel Vernet, außenpolitischer Experte von Le Monde.
Für die Bürger wird das Sonderverhältnis durch Aushängeschilder wie das deutsch-französische Jugendwerk sichtbar, die gemeinsame Brigade – die jetzt durch das Europa-Korps erweitert wird – oder durch den Kulturkanal Arte. Die 1.400 Städtepartnerschaften sollen menschliche Bindungen schaffen. Auch in den Gymnasien steht der freundliche Blick über den Rhein im Stundenplan und mündet oft im Austausch. Doch entsteht daraus wirklich die so hochgelobte deutsch-französische Freundschaft, geht diese tatsächlich über den „cher Helmut“ und seinen lieben Freund François hinaus? Fest steht, daß die Nachbarsprache für die meisten Bürger fremd bleibt. „Unsere Jugendtreffen spielen sich auf Englisch ab“, bedauerte ein französischer Bürgermeister bei einem Kolloquium zum Elysée-Vertrag in der Pariser Sorbonne. In beiden Ländern nimmt die Zahl derjenigen ab, die die Sprache des Partners lernen. In Frankreich steht gar das Bildungssystem dem Interesse am Deutschunterricht im Wege, erklärt Hans-Norbert Boscheinen vom Pariser Lycée International: Als bestes Abitur gilt das naturwissenschaftliche, das bac C; der sprachliche Zweig ist nur zweite Wahl.
„Wir wissen zu wenig voneinander“, bedauert Reinhard Sommer, der sich im nordrhein-westfälischen Brilon für Partnerschaften einsetzt. Er schätzt, daß sich gerade mal 300 der insgesamt 26.000 Einwohner am Austausch beteiligen. Selbst die Ratsmitglieder hätten keine Ahnung, wie die Partnerstadt regiert wird, welche sozialen Strukturen es dort gibt, wo die Menschen arbeiten und unter welchen Bedingungen. „Deshalb können wir auch keine Vorurteile abbauen. Wir haben nichts erreicht, deshalb muß an dieser Freundschaft ständig gearbeitet werden.“ Der Politologe Alfred Grosser sieht weitere Gründe für Pessimismus: In Frankreich drehe die Arbeitslosigkeit mit ihren sozialen Verheerungen „den Blick weg vom Äußeren und insbesondere vom Partner und Nachbarn“, in Deutschland hätten die dramatischen Unzulänglichkeiten der Vereinigung dieselbe Folge.
Die Kontakte zwischen Franzosen und Bewohnern der fünf neuen Bundesländer sind bislang ganz dürftig. Dort bremst ähnlich wie in den französischen banlieues der Lebenskampf das Interesse; zudem mangelt es an Französischlehrern. Die Organisatoren von Städtepartnerschaften und Austausch befürchten außerdem, daß die Franzosen den Lebensstandard in der Ex-DDR nicht akzeptieren würden. Vielleicht ist das ja ein Vorurteil? Denn Vorurteile, da haben Politiker und Lehrer dieselben Erfahrungen gemacht, haben sich von der dreißigjährigen Partnerschaft kaum beeinflussen lassen. Ein besonders peinliches Beispiel dafür, wie sehr sie noch an die alteingesessenen Ängste im Volk glauben, gaben einige französische Spitzenpolitiker, als sie vor dem Maastricht-Referendum plötzlich wieder vor den „deutschen Dämonen“ warnten. Offenbar haben sie diese jedoch überschätzt, denn, so betont der Chef von Arte, Jérôme Clément: „Ohne die Erfahrung durch die Städtepartnerschaften wäre das Maastricht-Referendum in Frankreich mit Nein ausgegangen.“ Für André Santini, Bürgermeister und Copräsident der Kommission für Städtepartnerschaften, hatte die Maastricht-Debatte in Frankreich „psycho-therapeutische Wirkung: Die letzten Ressentiments sind hochgestiegen und beseitigt worden. Für uns ist die Versöhnung mit Deutschland erreicht, jetzt müssen wir die europäische Integration in Angriff nehmen.“ Bettina Kaps
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