piwik no script img

Diensteinheiten-Material

Ilja Kabakow/ „Das große Archiv“/ Teil der Installation „Sowjetische Welt“/ Stedelijk-Museum Amsterdam/ Fragebogen/ Richtlinien/ Direktiven/ Informelle Mitarbeit  ■ Mirjam Schaub

Im Zug Zeitung gelesen. „Wider die eilfertigen Rechercheure“ (FAZ). Der Verfasser, Joachim Walther, ist „Zeitmitarbeiter der Abteilung ,Bildung und Forschung‘ der Gauck-Behörde“ und arbeitet an einer „umfassenden Studie“ zum Thema „Literatur und Staatssicherheit“ „auf der Grundlage der verfügbaren Aktenbestände“. Alles über Personalakten „(in die der IM-Vorlauf aufging)“, Quittungsakten „(in der Spesen, Prämien und Präsente auf Heller und Pfennig verzeichnet sind)“ erfahren. Großes Interesse entwickelt für die „strukturelle und inhaltliche Analyse dieses Beziehungsgeflechts. Dazu gehören das Auffinden und Bewerten der Stasi-Richtlinien zur repressiven Überwachung der literarischen Szene, als diverse Befehle, Dienstanweisungen, Richtlinien und Direktiven. Das sogenannte Diensteinheiten-Material...“

In Amsterdam zur Erholung ins Museum gegangen. Im weißgetünchten, warmen Treppenhaus des Stedelijk von Andy Warhol mit „Big Flowers“ begrüßt worden. Ins grelle Licht der Diamanda Calas getreten, die beim Fototermin mit der Leibovitz ans Kreuz gefesselt „Ave Maria“ gesungen hat. Kurzes Tête-à-tête mit Malewitsch (Weiß in Weiß), dem langsam die Lust an sowjetischen Avantgarde-Ausstellungen vergeht... Plötzlich vom rechten Weg abgekommen und in einem dunklen Seitentrakt mit der Aufschrift „Das große Archiv. Ilja Kabakow“ gelandet.

Es riecht nach frischer Farbe. Kaum etwas zu erkennen. Überall Ablagen aus Sperrholz und Zettel, stapelweise. An den Wänden hängen Pappkartons, auf denen mit Buntstiften irgend etwas kyrillisch geschrieben steht. Daneben kleine Zeichnungen und Aquarelle, Köpfe im Profil – Bauersfrauen, Schulkinder, Arbeiter, Rentner samt Altersangabe. Sorgsam angefertigte Listen, mit Hilfslinien begradigte Zeilen. Ein Fragebogen für jedermann/jedefrau. Auf daß wir geschätzet und gezählet werden!

Es gibt mehr von diesen Räumen. Dieselben Sperrholzwände, dieselbe niedrige Decke, derselbe speckige Bodenbelag, dieselben Formulare aus Altpapier. Drei abgetrennte, deckenlose (Wahl-) Kabinen mit ausgesägtem „Mauseloch“, in das man die ausgefüllten Fragebögen werfen kann, dahinter ein einfacher Auffangbehälter (in dem allerdings nur eine leere Cola- Büchse liegt). Über jeder Kabine ist exakt eine Glühbirne angebracht, nur manche leuchten. Auf dem Boden sammeln sich Staub, zerknüllte Formulare, Kodakhüllen, auch ein Fax an Mrs. und Mr. Kabakov im Atlas-Hotel Köln, mit dem Besen unachtsam zusammengekehrt. Die Heizungsrohre liegen offen und kalt unter einem alten Holzrost. Eine Bürokratie nach Dienstschluß. Bin ich überhaupt befugt, hier herumzustehen?

Im nächsten Raum fünf Kabinen, sonst alles wie bisher. Statt der Aquarelle kleben Postkarten (aus den Ferien am Schwarzen Meer, dem Besuch in Ostberlin) auf den Pappkartons. Kleingedruckt steht unter den kyrillischen Tafeln auf englisch: „Tisch Nummer 24/16/IX 64. Formulare mit unleserlicher Handschrift werden nicht entgegengenommen.“ – „Füllen Sie dieses Formular nur mit dem Spezialstift aus, der auf dem Tisch bereitliegt. Formulare, die mit anderen Instrumenten (Bleistiften, unterschiedlichen Füllersorten) ausgefüllt sind, werden nicht angenommen.“ – „Achtung, Tisch 4 enthält keine weiteren Informationen.“ – „Achten Sie auf die Richtigkeit ihrer Stempel und Siegel. Es gibt drei verschiedene Sorten von Stempeln (...) Siegel werden entgegengenommen, wenn Prägung und Unterschrift lesbar sind.“

Im vierten Raum gibt es keine separaten Kabinen mehr, statt dessen fortlaufende, brusthohe Trennwände mit Sichtschutz, vor denen Sperrholztische mit verschlissenen Cordstühlen stehen. Jeder Tisch ist einer ganz bestimmten Personengruppe zugeordnet: dem „Stadtbewohner“, „Arbeiter“, „Behinderten“, „Studenten“, der „Hausfrau“ oder „Angestelltenfamilie“. Die Pappkartons auf Augenhöhe stellen präzise Fragen und bieten mögliche Antworten an. Zum Beispiel: „Halten Sie ihre Ehe für glücklich?“ – „Sergejew Igor Petrowitsch: Ja./ Sergejewa Anna Borisowna: Nein.“ – „Wollen Sie ihre Ehe beenden und wenn ja, aus welchem Grund?“ – „Sergejew Igor Petrowitsch: Ich habe keine solchen Absichten. / Sergejewa Anna Borisowna: Ja. Exzessives Trinken.“ Durch das Labyrinth aus Trennwänden gelangt man in den fünften Raum.

Immer noch derselbe Geruch nach frischer Farbe, die die Sperrholzwände aufgesogen haben. Immer wieder die akribischen Piktogramme, die liebevoll ausstaffierten, schäbigen Pappkartons auf Augenhöhe. Die Bodenheizung funktioniert nicht. Über Lautsprecher werden von Zeit zu Zeit Direktiven eingespielt, unverständliches Gemurmel, die Sendefrequenz ist gestört. Und das hört nie auf. Das Labyrinth der Tische nicht und auch nicht die Imperative an den Wänden. „Gehen Sie zurück zu Tisch 4 in Raum 3.“ – „Lassen Sie Ihre Unterschrift in Raum 4, Tisch 28 prüfen.“ Die Fragen nach den Auslandsreisen, den Studienfreunden, den Arbeitsverletzungen, dem Zustand der kommunalen Wohnungen. Zuletzt wird man nach der „ästhetischen Beziehung zum Leben gefragt“: „Wie möchten Sie ihr Leben verschönern, mit Brosche/Ring/Armband oder Fliege/Krawatte/Uhr?“

Dann hören die Fragen auf. Im sechsten Raum wartet man auf die letzte, die wirklich letzte Unterschrift. An den Wänden des kargen Raumes stehen Stühle, die den Personengruppen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit zugeordnet sind. Ein großer Schreibtisch hinter einem ausgerollten, roten Läufer... die Autorität als waltende Hand, Ruhe spendend und unberechenbar berechnend, was man an Antworten/Unterschriften/Siegeln zusammengetragen hat. Der Schreibtisch ist leer.

Man stiehlt sich heraus. Vielleicht gibt es ein Entkommen – ins Labyrinth, völlig abgedunkelt, ein Gang ohne Ende, Schnipsel an der Wand, die niemand mehr liest. Aber die Heizung funktioniert wieder. Dann plötzlich: Licht. Gleißendes, weißes Licht. Der Raum öffnet sich, geblendet tritt man aus den nur noch lose aneinandergelehnten Sperrholzplatten heraus. Der Raum ist ein weißer, wunderschöner, bilderloser Ausstellungssaal im Stedelijk-Museum. Ein paar Schritte noch, und man kehrt durch den Eingangsraum – über eine kurze, übersichtliche Wegstrecke noch einmal im Schummerlicht des „Großen Archives“ – zu seinem Ausgangspunkt, zu Andy Warhol und den anderen, ins Treppenhaus zurück.

Habe von Diensteinheiten-Material fortan genug. Zweifle an meiner geistigen Verfassung und der des Archivars Kabakow. Der Direktor des Stedelijk, Wim Beeren, bescheinigt schriftlich, daß kein Grund zur Klage vorliege. Der Künstler Ilja Kabakow (Jahrgang 33) sei „immer sorgsam gekleidet und pünktlich zur Arbeit erschienen. Seine Einstellung gegenüber seiner Arbeit war aufmerksam und von einem hohen Grad an Verantwortlichkeit gekennzeichnet, auch erfüllte er alle Arbeiten, die ihm die Museums- Leitung aufgetragen hat.“

Ilja Kabakow: Das große Archiv. Stedelijk-Museum Amsterdam, bis zum 28.März, Katalog 80 Gulden

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen