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Gesundheit als Dienstleistung?

Zwei Bücher zum Thema Gesundheitsversorgung und deren Unbezahlbarkeit  ■ Von Heidi Schüller

Nie war der Zeitpunkt so günstig. Nicht etwa aus Einsicht, sondern nur unter dem enormen Kostendruck einer Solidarkasse in Zeiten bedrohlicher Rezession setzt eine breite Diskussion um die Effizienz und Finanzierbarkeit unserer Schlaraffenlandmedizin ein. Jetzt mehren sich die Stimmen, die eine geradezu revolutionäre Umstrukturierung des Sozialsystems fordern, um langfristig die Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheits- und Pflegeleistungen sichern zu können. Diese Diskussion ist unbequem, aber sie muß geführt werden. Das elende Gezerre um die Pflegeversicherung beweist nur, wie töricht halbherzige Modelle sind und wie wenig sie zu langfristigen Problemlösungen beitragen. Das Pflegeproblem läßt sich nur im Kontext der Krankenversicherung verstehen und lösen. Dazu müssen die Karten der – mittlerweile – zu Recht verrufenen Gesundheitsbranche unverblümt auf den Tisch.

Zwei eigentlich unvergleichbare Bücher zum Chaos im Gesundheitswesen sind gerade erschienen. Leicht konsumierbar das eine (Huber), streng akademisch das andere (Arnold). Doch beide Autoren kommen zur Überzeugung: Der strukturelle Umbau des Gesundheitswesens ist dringend geboten. Unter den zu erwartenden demographischen Veränderungen läßt sich unser bisheriges Verständnis von Gesundheit und Solidarkasse nicht aufrechterhalten. So weit, so bekannt. Was tun?

Ellis Huber, Ärztekammerpräsident von Berlin und standesuntypischer Querdenker, entdeckt noch erhebliche Vergeudungsreserven im bisherigen System, die durch sinnvollere Ressourcenverteilung und stärkere Vernetzung aller Beteiligten sowie Einschränkung von Überdiagnostik und Übertherapie Besserung erfahren könnten. Michael Arnold hingegen, der ehemalige Vorsitzende der Sachverständigenkommission im Gesundheitswesen, sieht den Königsweg in der Beschaffung anderer finanzieller Quellen, etwa durch gestaffelte Beiträge je nach individueller Präferenz. Wahllose Mengenausweitungen der Leistungen von Fachärzten will er durch das Nadelöhr der Zuweisung nach Selektion durch die Primärärzte begrenzen. Ein frommer Wunsch. Denn bei der bekannten Cleverneß der Branche werden sich schnellstens Zuweisungsseilschaften zwischen Primär- und Fachärzten bilden.

Arnold räumt dem Gesundheitswesen mittlerweile den Stellenwert einer großen Dienstleistungsbranche ein: Die Ware Gesundheit ist Konsumgut. Sinnvolle Einsparungen sind in diesem Konzept nicht vorgesehen, vielleicht fehlen dem Autor dort die praktischen Insiderkenntnisse. Er vertraut auf mehr Eigenverantwortung der Patienten durch zusätzliche Versicherungen. Woher der Klein- und Mittelverdiener diese Ressourcen bei sinkenden Reallöhnen, höheren Steuern und Abgaben noch nehmen soll, verrät er nicht. „Allen alles geht nicht“ – jedenfalls nicht unter der Prämisse einer Solidarkasse, die sich allein aus lohnabhängigen Beiträgen finanziert. Darin sind sich beide Autoren einig.

Wo Bedürfnisse unbegrenzt eingefordert und qua Definitionsmonopol der Ärzteschaft für „Krankheit“ auch unbegrenzt geschürt werden, müssen neue Prioritäten gesetzt werden. An diesen Präferenzen will Arnold die Patienten aktiv, das heißt durch finanzielle Eigenleistungen, beteiligen. Er entwickelt ein System, in dem Solidarleistung nicht als Maximalversorgung, sondern als staatliche Sicherstellung der Versorgung von Leistungen zu verstehen ist. Die Überlegung, alle großen Risiken in der Grundversorgung abzusichern, bedarf allerdings noch genauer Definitionen. Sinnvoll wäre es, alle schicksalhaften Erkrankungen wie Unfälle, Notfallbehandlung und die betreuende Versorgung chronischer Krankheiten darin zu subsumieren.

In Arnolds Buch finden sich so bemerkenswerte Sätze wie: „Der Wert einer Gesellschaft entspricht der Hilfe bei Existenzgefährdung.“ Daß unsere Sozialsysteme von dieser Prämisse mittlerweile weit abgedriftet sind und oft der Beliebigkeit anheimfallen, ist nichts Neues. Der systematische Ansatz, mit dem Arnold den Solidaritätsgedanken neu belebt, verdient allerdings Beachtung. Zwei Schwächen hat das Buch: Die Notwendigkeit ärztlichen Handelns, das als Fortschrittlichkeit getarnt immer groteskere Blüten treibt, wird nicht genügend hinterfragt. Und das von ihm propagierte Modell der Grundversorgung mit Zusatzversorgung nach individuellen Präferenzen und den diversen Möglichkeiten von Selbstbeteiligung und Beitragsrückerstattung setzt bei Patienten eine Beurteilungskompetenz von Notwendigkeiten voraus, die der Realität nicht gerecht wird.

Nun zu Ellis Huber: Einig sind sich beide Autoren, daß der Grenznutzen medizinischen Aufwandes stetig abnimmt, die Gesamtkosten aber beharrlich steigen. Der Kampf unterschiedlicher Ärztegruppen um den kleiner gewordenen Kuchen dokumentiert dabei nur die mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit grundlegender Reformen, ja Revolutionen gesundheitspolitischen Denkens. Hier ist Huber federführend. Mit seiner oft spöttischen, aber durchaus berechtigten Decouvrierung „wissenschaftlicher“ Hybris der Medizin, die den strengen Kriterien einer echten Naturwissenschaft gar nicht standhält, sorgt er für gehörige Irritation in der Branche.

Huber schreibt für eine breite Laien-Leserschaft. Seine Sprache, seine Beispiele, sein Ductus verraten Sympathie für den Patienten und ärztliche Bescheidenheit angesichts einer akademisch arroganten Medizin, die auf der Flucht vor der therapeutischen Kapitulation sich in immer groteskere diagnostische Sphären verliert. Er propagiert wieder Menschennähe, Zeit, Zuwendung zum Patienten – die verlorengegangene Prämisse ärztlichen Handelns. Huber will die Medizin entmystifizieren, und das ist gut so. Süffisant poltert er gegen Heuchelei und ärztliche Raffsucht, diagnostiziert Monetik statt Ethik, beschreibt das Arzt- Patient-Verhältnis als „Systemverrücktheit zu zweit“ und sieht unsere vielgepriesene Medizin derzeit als „Valium für das Volk“, mit der soziale Disharmonien wegtherapiert werden sollen. Fast nebenbei fordert Huber Revolutionäres:

1. die Abschaffung der Kassenärztlichen Vereinigung (überdenkenswert) und 2. die direkte Vernetzung der Betreuung bei Krankheit und Pflege (der Königsweg in der elenden Diskussion um die Pflegeversicherung), was nur Zusammenlegung der beiden Ministerien (Arbeit, Soziales und Gesundheit) heißen kann.

Beide Bücher sind erhellende und hochinteressante Beiträge zu einer überfälligen Diskussion über die langfristigen Finanzierungskonzepte der Gesundheit in einem Sozialstaat. Unbequem, aber unumgänglich. Heidi Schüller

Michael Arnold: „Solidarität 2000“. Enke-Verlag Stuttgart, 209 Seiten, 48 DM

Ellis Huber: „Liebe statt Valium“. Argon-Verlag Berlin, 236 Seiten, 32 DM

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